Neunzig Jahre nach der Urauffühung im Kinotheater Alhambra am Kurfürstendamm am 30. Dezember 1929 erinnerte sich der Wedding an sein wahrscheinlich bekanntestes Filmspektakel: „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“.
Im City Kino in der Müllerstraße konnte Theaterleiterin Anne Lakeberg mehr als 150 hochinteressierte Gäste begrüßen, die den Film noch einmal auf sich wirken lassen wollten. Sie war erfreut über den großen Andrang, den sie auch als Beweis für den richtigen Weg des Kiez-Kinos seit fünf Jahren wertete. Verleger Walter Frey gab eine Einführung in die Entstehungsgeschichte des Films, der innerhalb eines Vierteljahres im Herbst 1929 fertig gestellt worden war. Er erinnerte an die Schauspielerinnen und Schauspieler, den Kameramann und Regisseur Piel Jutzi sowie die Unterstützer Käthe Kollwitz, Otto Nagel und Hans Baluschek. Walter Frey ordnete die Aufführung auch ein als Bestandteil des langes Otto-Nagel-Jahres, das der Initiativkreis Otto Nagel 125 anläßlich des 125. Geburtstages des Wedding-Malers auf den Weg gebracht hatte. Sein aktuelles Buch zum Film fand interessierten Absatz.
Die Aufführung selbst dauerte dann länger als zwei Stunden. Sie beruhte auf einer vor mehreren Jahren in München erfolgten Digitalfassung, die so weit als möglich dem Original nahe kam. Die Urrolle hatten die Nazis vernichtet.
Die Geschichte ist unspektakulär: sie basiert auf versoffenen 20 Mark, die eine ganze Familie in existenzielle Probleme stürzen. Was uns dabei heute vor allem interessiert, sind die originalen Bilder, die wie eine authentische Dokumentation das Elend, die kleinen Freuden und großen sozialen Probleme der Zeit zeigen. Dramaturgisch hat der Film seine Längen. Aber es gibt für die Zuschauer auch immer wieder Gelegenheit, befreit zu lachen. Eine Perle für sich: die Untertitelung der Handlung im Berlinisch von 1929!
Im Mittelpunkt des Filmes stehen sicherlich die Schauspielerinnen Alexandra Schmitt als Mutter Krausen und Ilse Trautschold als ihre Tochter Erna. Beide tragen mit ihrer Wärme und Lebendigkeit die Handlung.
Alexandra Schmitt war damals 68 Jahre alt, – sie wirkt auf uns heute wie eine alte Frau von 80 Jahren, – doch sie spielt schlüssig und gütig. Ilse Trautschold ist überragend – eine junge, lebenshungrige Frau; von ihr hat man nach 1945 nicht mehr viel gesehen, jedenfalls nicht in großen Filmen. Der „Tagesspiegel“ verabschiedete sie nach ihrem Tod 1991 als „Insulanerin“. Von den männlichen Darstellern ist Schlafbursche Gerhard Bienert in Erinnerung, der in Ost-Berlin eine große Karriere als Theater- und Filmschauspieler hinlegte. Friedrich Gnaß, Ernas Freund, dürfte vielen DEFA-Freunden noch als Vorarbeiter Napoleon Fischer der Netziger Papierfabrik in Wolfgang Staudtes „Untertan“ in Erinnerung sein.
Nicht zuletzt: der Film ist weit weg und nah dran an uns – diese Ambivalenz zu verstehen hilft einem das Buch zum Film. Auch warum dieses Werk als „proletarisch-revolutionär“ bezeichnet wird. Ein weites Feld…
(Axel Matthies)