Einladung zur Biesdorfer Begegnung gemeinsam mit der Leibniz-Sozietät am 14. Juni 2023


Einladung zur Parkführung am 10. Juni 2023


Geglückte Vernissage in Otto Nagels Wedding

Die Eröffnung der Ausstellung mit Werken Otto Nagels aus einer Privatsammlung am 17. Mai 2023 im Weddinger Kurt-Schumacher-Haus ist wunderbar verlaufen. Um die 60 Menschen, vor allem Schülerinnen und Schüler des Biesdorfer Otto-Nagel-Gymnasiums, gaben der Vernissage einen würdigen Rahmen.

Joachim Günther, der Vorsitzende des gastgebenden Kulturforums Stadt Berlin der Sozialdemokratie e.V. und Nadja Schallenberg, eine Enkelin Otto Nagels, eröffneten mit prägnanten kurzen Redebeiträgen die Ausstellung. Sie seien sehr froh, dass Otto Nagel in seinen Wedding zurück kehre.

Joachim Günther und Nadja Schallenberg (re.)

Anschließend brachten zwei Schülerinnen und zwei Schüler mit Songs von Bertolt Brecht und Kurt Weill den Zeitgeist der 1920er Jahre in die Ausstellung. Das war eine sehr gut einstudierte Performance, die viel Beifall bekam.

Musikalische Performance 1920er Jahre

Sodann stellte Frau Wolfram-Gagel, die verantwortliche Lehrerin im Kunst-Leistungskurs (11. Klassenstufe), das Projekt ihrer Schülerinnen vor. Aufgabe und Ziel war eine eingehende Auseinandersetzung mit den ausgestellten Werken Otto Nagels. Diese waren in Themen aufgeteilt, die als Lebenskreise bezeichnet wurden:

  • Nagel als Ehemann: Im Dialog mit Walli. Werk: Walli in der Waschküche, 1934
  • Nagel als Kurator in Saratow: Ein Dialog mit der Zeichnung. Werk: Gleisbau in Saratow, 1925
  • Nagel als Politiker in der DDR: Im Dialog mit der Zeichnung. Werk: Tagesordnung Volkskammer, 1950
  • Armut und Arbeitslosigkeit: Im Dialog mit der Grafik. Werk: Bettelleute, 1921
  • Der Hungerwinter in Berlin: Im Dialog mit Arbeitern. Werk: Passant im Regen an der Litfaßsäule, 1947
  • Armut und Hunger zur Zeit der Weimarer Republik: Im Dialog mit den Bettelnden in der Grafik. Werk: Städtisches Arbeitslosenzentrum im Wedding, 1926

Im Ergebnis, so erklären die Schülerinnen, seien eigene Malereien und Grafiken sowie Podcasts entstanden, die einen fiktiven Austausch mit den Werken und den darin abgebildeten Menschen präsentieren. Die in den Podcasts erzählten Geschichten basierten sowohl auf einer Literatur- und Internetrecherche als auch auf Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Hier können Sie die Podcasts hören.

Als Beispiel sei hier die Hängung zum Lebenskreis “ Nagel als Ehemann: Im Dialog mit Walli“ gezeigt:

Zum Verständnis die dazugehörige Karte (der Lebenskreis trägt eine andere Bezeichnung)

Unter den Gemälden und Zeichnungen der Schülerinnen war wirklich eine Menge an guter Qualität zu besichtigen. Mir sprang eine Zeichnung von Carla ins Auge, die eine Straßenszene zeigt. Die Zeichnung hat eine expressionistische Note und besticht durch eine sehr gute Komposition und gedimmte Farbigkeit, die den Blick klar über das Kunstwerk führt. Man blickt auf eine komplexe Arbeit, die dennoch Details inkludiert. Respekt.

Straßenszene von Carla

Zum Abschluss überreichte Frau Wolfram-Gagel ihren Schülerinnen eine Rose. Der Abend klang bei vielen Gesprächen aus. Er war eine gelungene Symbiose von Heimkehr in den Wedding des Künstlers Otto Nagel und tiefgreifender Beschäftigung seines Werks durch Schülerinnen des Biesdorfer Gymnasiums.

Die Schülerinnen mit Rose, links Frau Wolfram-Gagel

Die Ausstellung ist noch bis zum 14. Juni im Wedding zu sehen. Es ist vereinbart, dass die Ausstellung im Frühjahr 2024 im Schloss Biesdorf präsentiert wird. Dann mit weiteren Arbeiten des jetzigen Kunst-Leistungskurses in der 12. Klassenstufe.

(Axel Matthies)



Neue Publikation zu Otto Nagel vorgestellt

Am 24. Mai 2023 wurde innerhalb der Ausstellung „Lebenskreise – Otto Nagel. Nagels Werk aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern“ in der Galerie Kurt-Schumacher-Haus in der Weddinger Müllerstraße 163 die Publikation

Otto Nagel (1894 – 1967). Maler – Publizist – Kulturpolitiker

vorgestellt. Herausgeber ist unser Verein „Freunde Schloss Biesdorf“. Im Vorwort des neuen Buches heißt es u.a.:

Die hier versammelten Autorinnen und Autoren eint nicht nur ihre Beziehung zu Otto Nagel als Maler, der auf ganz eigene Weise mit seinen Menschenbildern die Lebenslage des Proletariats besonders in den 1920er Jahren festgehalten und mit seinen Ansichten das „alte“ Berlin festhielt, auch mit der Vorahnung seiner Zerstörung. Sie führte auch das Motiv zusammen, die anderen Seiten des Lebens von Otto Nagel genauer zu beleuchten. Seine andauernde Tätigkeit als Publizist, politischer Netzwerker und Kulturorganisator in der Weimarer Republik und in kulturpolitischen Funktionen der jungen DDR, so als Präsident der neu gegründeten Akademie der Künste, macht sein Leben so besonders…

Dem Aufspüren, Nachgehen und Aufschreiben vor allem dieser Lebensphasen dienen die vorliegenden Texte. Unausbleibliche Wertungen aus dem geschichtlichen Nachhinein erfolgen mit Sorgfalt und Respekt vor dem Lebenswerk Otto Nagels. Dabei festigten sich die Kontakte und Bindungen zwischen den Akteuren der wichtigen Lebensorte Otto Nagels in Berlin: dem Wedding und Biesdorf.

Die Schutzgebühr für den Band beträgt 8,00 Euro. Er ist erhältlich bei der Buchhandlung Kohs am S Kaulsdorf, im Café Schloss Biesdorf, voraussichtlich bei Thalia im Eastgate, im Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf im Dorf Marzahn und auch über den Verlag Walter Frey. Über weitere Vertriebswege informieren wir Sie demnächst.


Einladung zur Ausstellung: Lebenskreise – Otto Nagel und seine Zeit. 17. Mai bis 14. Juni 2023


Er hat die Menschen von nebenan porträtiert: die Tagelöhner und Arbeitsuchenden, die Asylisten und Kneipengänger. Der Weddinger Künstler Otto Nagel, Freund von Käthe Kollwitz und Heinrich Zille, wird vom 17. Mai bis 14. Juni 2023 mit einer Ausstellung in der Galerie in der Weddinger Müllerstraße 163 gewürdigt, bei der nicht nur Arbeiten Otto Nagels zu sehen sind. Schülerinnen und Schüler des Otto‐Nagel‐Gymnasiums in Biesdorf haben sich künstlerisch mit seinem Werken und seinem Leben auseinandergesetzt und sind in eigenen Bildern der Frage nachgegangen, welche Bedeutung Otto Nagel heute haben kann.

Nagel (27.9.1894 – 12.7.1967), aufgewachsen in einem sozialdemokratischen Elternhaus, hat autodidaktisch seinen eigenen, realistischen Malstil entwickelt. Seine Motive fand er im Weddinger Milieu, später hat er das alte Berlin und den Fischerkiez vor ihrer Zerstörung in Bildern festgehalten. Nagel war immer ein politischer Künstler. Nach dem 1. Weltkrieg trat er in die KPD ein, ohne sich jedoch auf eine parteipolitische Linie einengen zu lassen. Auch als Präsident der Akademie der Künste in der DDR hat er sich bemüht, künstlerische Freiräume zu erhalten, bis ihm dies schließlich unmöglich gemacht wurde. Durch die Konfrontation im Kalten Krieg blieb Nagel die eigentlich verdiente künstlerische Anerkennung im Westen verwehrt. Nach seinem Tod wurde ihm die Ehrenbürgerschaft von Ost‐Berlin verliehen, 1992 wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der wiedervereinigten Stadt Berlin zuerkannt.

Mitte der zwanziger Jahre war Nagel Mitorganisator einer ersten großen Ausstellung deutscher Künstlerinnen und Künstler in der Sowjetunion. Dort lernte er seine spätere Frau Walli kennen, die eine große Stütze für ihn wurde und die viele Bilder vor der Vernichtung rettete. Otto Nagel hat die Kunst zu den Menschen im Wedding gebracht, er organisierte Ausstellungen in Kaufhäusern und Arbeiterkneipen. Viele seiner Werke sind zunächst von den Nazis, später durch Bombenangriffe zerstört worden. Einige kehren jetzt für vier Wochen in den Wedding zurück.

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Kulturforums Stadt Berlin der Sozialdemokratie, des Otto‐Nagel‐Gymnasiums Biesdorf und des Initiativkreises Otto Nagel 125.

Ausstellung „Lebenskreise. Otto Nagel und seine Zeit“. 17. Mai bis 14. Juni 2023, Galerie Müllerstraße163, 13353 Berlin (nahe U + S Wedding), geöffnet mittwochs bis freitags von 16 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung unter 0173 6104938.

Veranstaltungen während der Ausstellung


Das Wegeleitsystem für den Schlosspark Biesdorf ist realisiert


Wie einer Pressemitteilung des Bezirksamtes Marzahn-Hellersdorf vom 3. Mai 2023 zu entnehmen ist, wurde bereits im Jahre 2013 begonnen, eine Ausschilderung des Schlossparks Biesdorf vorzubereiten. Im November 2020 fand ein Gespräch von zwei Mitgliedern unseres Vereins Freunde Schloss Biesdorf e.V. mit dem Leiter des Fachbereichs Grün im Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf von Berlin zum Thema Beschilderungskonzept für den Schlosspark Biesdorf statt. Das dezente Design war schon erarbeitet. Wir befürworteten den Ansatz, an allen Zugängen des Parks Übersichtspläne aufzustellen und an sinnvollen Stellen Wegweiser im Park zu installieren. Außerdem sollte als Außenwerbung ein von den Straßen aus gut sichtbares Willkommensschild an der Ecke Alt-Biesdorf/Blumberger Damm hinter der Parkmauer aufgestellt werden.

Wir nahmen gerne das Angebot zu einem Ortstermin im Park an, bei dem die konkreten Aufstellorte und deren Beschriftungen festzulegen waren. Diese Begehung fand auf Einladung des Bauleiters Landschaftsbau des Bezirksamtes zusammen mit der Gruppenleiterin der Unteren Denkmalschutzbehörde und der Firma eckedesign im November 2021 statt. Die Vertreterin der Firma eckedesign protokollierte die gemeinsam abgestimmten Aufstellpunkte für Übersichtspläne und Wegweiser und deren Ausrichtung. In den folgenden Wochen bis Anfang 2022 fand ein reger Mail-Austausch zu den Inhalten der Wegweiser und deren Optimierung statt.

Wir konnten durch unsere Ortskenntnis für die Aktualisierung des Wegeplans sorgen (eine im Plan noch enthaltene alte Wegverbindung gab es schon seit einiger Zeit nicht mehr und an den Neubauten neben der westlichen Parkgrenze war inzwischen der Kleine Parkweg entstanden).

Nach längerem Warten ist nun in den letzten Apriltagen 2023 das Leitsystem verwirklicht worden. An allen fünf Zugängen befinden sich die Übersichtspläne. Die Wegweiser sind gut zu erkennen, fügen sich in den Park ein und werden hoffentlich ausreichend Orientierung für die Besucher sowohl zu den interessanten Punkten des Parks als auch zurück zu den Ausgängen und Verkehrsanbindungen (S- und U-Bahn, Bus) bieten.

Übersichtsschild an einem Eingang

Neu wurde eine sehr informative Hinweistafel in der Nähe der Anfang Mai 2020 gepflanzten drei Birken aufgestellt, die an den einstigen sowjetischen Friedhof erinnern.

Information bei den drei Birken

(Dr. Ullrich Hieronymi)


Die Wiedererkennung historischer Lokationen im Altberlin-Werk Otto Nagels

In Berlins historischer Mitte ist in den letzten Jahren viel gegraben und vermessen worden. Es gibt Debatten über die Gestaltung des ehemaligen Molkenmarktes, neu gebaute Häuser verbuchen für sich, über dem ehemaligen Cöllnischen Fischmarkt oder dem Petriplatz zu residieren. Fast alle lebenden Menschen kennen die historische Mitte nur von Fotos; ihnen fehlt in der Regel die Vorstellungskraft für diese versunkene Welt. Als Ende der 1960er Jahre die Bausubstanz des Fischerkietzes abgetragen wurde, war Berlin als mittelalterliche Doppelstadt praktisch unhistorisch geworden. Heutige Debatten sind geprägt vom Willen, die alte Stadt ein wenig sichtbarer werden zu lassen.

Am 2. April ging im Museum Eberswalde eine Ausstellung mit Berlin-Bildern von Otto Nagel zu Ende, die auch an die alte Mitte erinnert. Sie trug den Titel „Otto Nagel – Menschensucher und Sozialist“ und zielte vor allem auf geschärfte biografische Details, die sich aus einer gesicherten Quellenlage im Archiv der Akademie der Künste ergaben. Ich nehme drei Werke des Künstlers zum Anlass, um die historischen Lokationen zu erkunden.

Ausgewählt habe ich:

  • Hauseingänge in der Friedrichsgracht II, 1965
  • Blick auf das Gasthaus „Nussbaum“, um 1954
  • Am Köllnischen Fischmarkt, 1965

Hauseingänge in der Friedrichsgracht II, 1965

Als im Jahre 2019, anläßlich des 125. Geburtstages seines Namensgebers, das Otto-Nagel-Gymnasium die Pastellzeichnung „Hauseingänge in der Friedrichsgracht II“ erwarb, bewegte mich die Frage, ob die originale Lokation noch rekonstruierbar sei und ob das Internet eine entsprechende Recherche hergäbe.

Das gerade erworbene Pastell


In der Erinnerung war mir der historische Fischerkiez präsent. Mein Vater hatte mich um 1960 ein oder zwei Mal dort nach der Maidemonstration hingeführt. Das Viertel erschien mir schäbig und ungemütlich. Die Häuser waren verfallen und nicht selten blickten trübe Gestalten aus den Fenstern. Ich wollte nur schnell weg. Mein Vater stammte vom Gesundbrunnen, er war dem Weddinger Otto Nagel nahe und kannte alle Bildmotive, die der Maler dort gefertigt hatte. Bald wurde der Fischerkiez endgültig abgerissen und Hochhäuser an seine Stelle gesetzt. Die Zeitungen feierten die Veränderungen. Mir war durch eine Kommilitonin der Komfort der Hochhäuser bekannt. Ich konnte mich für die Bilder Otto Nagels und die Welt dahinter nicht begeistern.

Nun, Jahrzehnte später, erinnerte ich mich wehmütig. Um so größer wurde der Wunsch, Dinge zu entschlüsseln, sie zurück zu holen, die leichter zu haben gewesen wären.

Otto Nagels Pastellbild „Hauseingänge in der Friedrichsgracht II“ zeigt zwei Hauseingänge, beide mit Doppeltüren und Oberlicht ausgestattet. Zu beiden führen zwei steinerne Stufen. Die linke Tür ist rotbraun gestrichen, die rechte grün. Zu erkennen sind außerdem zwei Zugänge in das Souterrain und ein Kellerfenster.

Gibt es Bilder von Nagel, die diese Motive in breiterer Perspektive zeigen? Natürlich. Zuerst wäre da das Titelbild auf dem Band „Berliner Bilder“: das Panorama der Fischerinsel.

Das Panorama-Bild der vorderen Friedrichsgracht (Abb.: Henschelverlag)

Vorne ist ein Kanal zu sehen und hinter den verschachtelten kleinen Häusern ragen die Türme der Nikolaikirche und das Rote Rathaus hervor. Finden sich hier die beobachteten zwei Hauseingänge? Wenn man das Panorama genau betrachtet, stehen in der Bildmitte sogar vier Häuser mit Doppeltüren und Oberlicht. Die Häuser stehen relativ nahe zum Mühlendamm, also am Anfang der historischen Friedrichsgracht. Die Inselbrücke ist nicht zu sehen, aber sie muss nah sein. Otto Nagel hatte für die Skizzierung des Panoramas das Gewerkschaftshaus in der Wallstraße genutzt. Das Haus lag genau gegenüber und war der ideale Aussichtspunkt. Das Gewerkschaftshaus war Anfang der 1920er Jahre von dem Architektenbüro Max Taut und Franz Hoffmann entworfen und 1932 von Walter Würzbach erweitert worden.

Nagels Motto als Künstler war stets: zeigen, was ist! Man kann also davon ausgehen, dass alles, was Nagel zeichnet oder malt, auch existiert. Bald fand ich im Netz noch ein weiteres Bild dieses Teils der Friedrichsgracht. Es ist ein Gemälde von Anna Gumlich-Kempf aus dem Jahre 1910. Bei ihr gibt es noch keine grüne Tür.

Anna Gumlich-Kempf, Friedrichsgracht. Um 1910

Wie nun weiter mit der Feststellung der Doppeltüren? Das Beste wäre, nach historischen Fotos zu suchen, die die Friedrichsgracht zeigen. Davon gibt es im Netz viele Angebote. So bietet etwa die Homepage „Historischer Hafen Berlin“ reichlich Anschauungsmaterial. Bald fand ich Fotos mit den Häusern und lernte, dass diese Häuser, es sind vier, aus der Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg stammen: sie wurden in der Periode nach Ende des 30jährigen Krieges 1648 und bis zum Tod des Kurfürsten 1688 errichtet.

Die Häuser aus der Zeit des Großen Kurfürsten
Friedrich Wilhelm von Brandenburg

Nun kann man auch die gesamte Häuserzeile zwischen Inselbrücke und Fischerstraße identifizieren: Es sind die Adressen Friedrichsgracht 1 bis 11. Das war offensichtlich Otto Nagels Lieblingsplatz, denn hier ist das Foto mit ihm als Künstler im Fischerkiez entstanden. Er sitzt hier vor den Kurfürstenhäusern, wie diese umgangssprachlich genannt wurden.

Otto Nagel vor den Häusern mit Doppeltür

Die weitere Recherche wird nun einfacher. Am Ende erkennt der Suchende, dass das Pastell „Hauseingänge in der Friedrichsgracht“ die Hauseingänge der historischen Adresse Friedrichsgracht 8 und 9 abbildet.

Die Häuser Friedrichsgracht 9 (li.) und Friedrichsgracht 8 in der Fotografie
Die gleichen Häuser auf dem Pastell Otto Nagels aus dem Jahre 1965

Abschließend ein Vergleich der Zeile Friedrichsgracht 1 bis 11 im frühen 20. Jahrhundert und heute.

Die vordere Friedrichsgracht bis zur Fischerstraße um 1910
Der gleiche Abschnitt heute. Die Fläche wird genutzt vom STZ Kreativhaus

Blick auf das Gasthaus „Nussbaum“, um 1954

Die Gaststätte „Nussbaum“ ist heute bekannt als Nachbau im Nikolaiviertel. Das Nikolaiviertel bildet im Wesentlichen Alt-Berlin ab. In Wirklichkeit lag der „Nussbaum“ in Alt-Cölln in der Fischerstraße, also auf der südwestlichen Spreeseite, etwa 800 Meter entfernt. Die Fischerstraße gibt es heute nicht mehr. Sie lag aber gleich um die Ecke, wie der Berliner sagt, von den gerade besprochenen Kurfürstenhäusern. Sie ging von der Friedrichsgracht ab.

Friedrichsgracht, Ecke Fischerstraße. Rechts die Kurfürstenhäuser, vorn das Eckhaus, das die Bezeichnung Fischerstraße 20 trägt.

Direkt neben dem Eckhaus schließt sich die Adresse Fischerstraße 21 an.

Fischerstraße 21

Der „Nussbaum“ war die Lieblingskneipe von Heinrich Zille und er wird einige Male mit Otto Nagel den Staub der Straßen hier herunter gespült haben. Zille arbeitete 15 Jahre am Dönhoffplatz als Lithograph und lief nach der Arbeit oft durch den Fischerkietz. In den 1920er Jahren, in denen Zille und Nagel befreundet waren, war Pinselheinrich allerdings schon recht krank, der Arzt hatte ihm zum Alkoholverzicht geraten. Dennoch wurde der „Nussbaum“ auch für Otto Nagel, wie für viele Berlin-Maler, ein besonderes Motiv. Das hier gezeigte Pastell stammt nach Einschätzung des Archivs der Akademie der Künste aus dem Jahre 1954. Das Gasthaus wurde bereits 1943 bei schweren Bombenangriffen zerstört, wie auch ein Teil der vorderen Friedrichsgracht. Da auch das Werk Otto Nagels zu drei Viertel dem Bombenfeuer zum Opfer fiel, hat er wohl das Haus aus der Erinnerung erneut gezeichnet.

Otto Nagel, Blick auf das Gasthaus „Nussbaum“. Um 1954 (Abb. AdK)

Abschließend die Erinnerung eines Berliners aus dem Jahre 1925: „Wir biegen in die Fischerstraße und sind wie in einer Stadt für sich. Das war hier einmal die älteste Straße des Fischerdorfes Cölln, und sie hat sich bis zum heutigen Tage von ihrer Eigenart manches bewahrt. Da steht gleich ein kostbares Häuschen, das »Gasthaus zum Nußbaum«, spitzgieblig über die Maßen, von seinem Nußbaum halb verdeckt; der Kellerhals im Innern zeigt die Jahreszahl 1571.“ (Zitiert nach: Adolf Heilborn, Die Reise nach Berlin. Berlin 1925)

Der „Nussbaum“ ist heute fester Bestandteil jedes Touristenbesuches im Nikolaiviertel.

Am Köllnischen Fischmarkt, 1965

Dieses Pastell erscheint vielen Betrachtern als vollbrachte Geschichte: der Köllnische Fischmarkt ist nicht mehr und kaum jemand weiß, wo er sich befand. Die frontal abgebildeten vier schmalen Häuser werden irgendwo gestanden haben, die auf der rechten Bildseite erkennbaren Bauarbeiten lassen darauf schließen, dass sie keine längere Lebensperspektive hatten. Und doch ist das Gegenteil der Fall.

Die stadtgeschichtliche Aufarbeitung gerade dieses Pastells ist hochinteressant. Es zeigt die Perspektive zwischen Breite Straße und Gertraudenbrücke entlang der Gertraudenstraße und endet bei den Häusern, die, ich nehme es vorweg, an der Kleinen Gertraudenstraße stehen. Die Strecke ist durch den Krieg völlig leer geräumt, sie war vorher prall überbaut.

Otto Nagel, Am Köllnischen Fischmarkt. 1965 (Abb. AdK)

Um diese historische Perspektive nachvollziehen zu können, ist ein Blick auf den historischen Stadtplan unersetzlich.

Ausschnitt aus dem Berlin-Plan des Straube-Verlages von 1910

Der Köllnische Fischmarkt schloss sich unmittelbar dem Mühlendamm an. Weiter westlich, auf der anderen Seite der Breite Straße, erhob sich das Cöllnische Rathaus. An ihm vorbei führte dann die Gertraudenstraße Richtung Gertraudenbrücke.

Der Cöllnische Fischmarkt mit dem Cöllnischen Rathaus. Im Hintergrund die barocke Petrikirche. Gouache von Johann Georg Rosenberg, 1784.
Der gleiche Ort im Jahre 1880, nun mit der neugotischen Petrikirche

Man sieht dem Foto an, dass das Rathaus seinen Charme verloren hatte. Seine eigentliche Funktion hatte es niemals angenommen, es wurde lange Zeit als Gymnasium und zuletzt als Museum genutzt. Im Jahr 1899/1900 wurde das Cöllnische Rathaus abgerissen.

Wenn man aber die Gertraudenstraße von der anderen Seite, vom Spittelmarkt aus, betrachtete, entstand sofort ein anderer Eindruck.

Blick vom Spittelmarkt in die Gertraudenstraße (li.)
Richtung Petrikirche und Fischmarkt

Der Architekturhistoriker Prof. Dr. Harald Bodenschatz hat den Wert der Gertraudenstraße im späten 19. Jahrhundert so eingeschätzt: „Der Spittelmarkt diente als Sammelpunkt des Verkehrs vor dessen Eintritt in die Altstadt und vermittelte zugleich den Schwenk des Hauptstraßenzuges nach Nordost. Nach Passieren der Gertraudenbrücke erreichte man bald den Petriplatz, das Herz des mittelalterlichen Cölln, mit der die Bürgerhäuser überragenden Petrikirche. Kurz darauf folgte der Köllnische Fischmarkt mit dem alten, 1899 abgebrochenen Rathaus von Cölln. Der Fischmarkt schließlich mündete in das Nadelöhr des Mühlendamms, der zum Molkenmarkt auf der Berliner Seite der Spree führte. Wie bei keinem zweiten Straßenzug der Altstadt entfaltete diese Folge von unregelmäßigen Stadträumen das für eine lebendige Stadt typische Ineinandergreifen von Passage und Halte-Plätzen. Hier war ‚Haus für Haus ein Laden zu finden‘, hier erhob sich eines der größten Einkaufszentren Berlins, das 1839 gegründete Kaufhaus Hertzog.“ (s. Homepage Harald Bodenschatz: Berlin – Auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum)

Berlin hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant entwickelt. Die Industrialisierung hatte die Stadt mit Urgewalt ergriffen und einen riesigen Bedarf an Arbeitskräften erzeugt. Das hatte Auswirkungen auf den Stadtverkehr. Der Mühlendamm war zum Nadelöhr geworden. In einer Verkehrszählung von 1891 zählte man in 16 Stunden mehr als 60.000 Wagen aller Art und über 40.000 Passanten. Deshalb begann ein umfangreiches Abrissprogramm, in dessen Ergebnis die Brücke erweitert wurde. Aber bereits 1930 veröffentlichte die Bauverwaltung des Magistrats eine Denkschrift, die für einen neuerlichen Umbau des Mühlendamms eine Gesamtbreite von 37 Metern vorsah. Diese Planung wurde dann 1968 realisiert. So war Otto Nagels alte Stadt weit vor dem 2. Weltkrieg als Hindernis für die moderne Stadt taxiert worden.

Nach Ende des 2. Weltkrieges war die Gegend nicht wiederzuerkennen. Zwar war eine gewisse Bausubstanz erhalten geblieben, aber das städtische Leben war aus der Altstadt gewichen. Die systematischen Bombardierungen und die letzten Kämpfe um Berlin hatten die Stadt hilflos hinterlassen. Die Gegend um den Petriplatz sah um 1954 einfach leer aus.

Die Petrikirche vom Spittelmarkt aus gesehen

Schließlich wurden große Teile der alten Stadt abgetragen, um auf ihren Fundamenten ein modern konzipiertes Wohngebiet mit der notwendigen sozialen Infrastruktur zu errichten. Heute wird auf das verantwortungslose und unhistorische Agieren der DDR-Regierung verwiesen. Sie hätte den historischen Kern Berlins zerstört und die Gertraudenstraße zu einer seelenlosen Betonstraße funktioniert. Nach dem Krieg ging es überall in Deutschland darum, schnell neue Wohnungen zu schaffen und ein Alltagsleben wieder herzustellen. Wer die Stadtautobahnen in Westberlin kennt, darf sich die Frage stellen, ob Mühlendamm und Gertraudenstraße unter anderer Besatzung nicht Kern einer verbindenden Autobahn zwischen City Ost und West geworden wären. Für den heutigen Autoverkehr reicht die Kapazität des Mühlendamms gerade aus, in der Rush Hour ist die Strecke überlastet. Nicht zu vergessen: die Substanz von Alt-Berlin und Alt-Cölln war bereits vor dem Krieg seit Jahrzehnten derart verschlissen, dass eine Instandsetzung einer grundsätzlichen Sanierung gleichgekommen wäre. Dafür waren weder Zeit noch Ressourcen vorhanden.

Die Gertraudenstraße nach Neubeplanung und Umbau

Es wäre allerdings möglich gewesen, mehr erhaltenswerte und sogar denkmalgeschützte Einzelgebäude zu restaurieren und in die neuen Stadtlandschaften einzubetten.

Zurück zu unserem Ursprung – dem Pastell „Am Köllnischen Fischmarkt“ von Otto Nagel. Vor wenigen Wochen stieß ich bei meinen Recherchen auf ein Foto in der Märkischen Oderzeitung.

Archäologische Führung am Petriplatz in Berlin-Mitte. Archäologin Claudia Melisch zeigt die freigelegten Fundamente der Petri-Kirche (Foto: moz.de)

Ich war wie vom Blitz getroffen: das ist genau derselbe Blick, den Nagel 1965 auf diese Häuser hatte. Diesmal allerdings im Jahre 2019. Die Archäologin Claudia Melisch hatte mit ihrem Team den ehemaligen Petriplatz erforscht. Sie war dabei, als 3000 Gräber des Petri-Kirchhofs entdeckt wurden. Anhand der über 800 Jahre alten Skelette forschte sie gemeinsam mit Charité-Wissenschaftlern nach den Ureinwohnern der Doppelstadt. „Anhand der Knochen kann man etwas über die Lebensbedingungen und die Herkunft der Menschen erfahren“, erklärte Melisch damals. Weil die 40 ältesten männlichen Toten nicht miteinander verwandt waren, gehe man davon aus, dass die Gegend nicht mit Familien besiedelt wurde. Die Menschen, die sich vor mehr als 800 Jahren auf dem Handelsweg zwischen Magdeburg und Frankfurt (Oder) an der Spree niederließen, stammten ähnlich wie heute aus verschiedenen Gegenden. (s. moz.de vom 15.5.2019)

So sind über den Umweg der archäologischen Erforschung des Petriplatzes und der Neubebauung der Strecke zwischen Breite Straße und Jungfernbrücke die Lokationen des Pastells „Am Köllnischen Fischmarkt“ auf neue Weise deutlich geworden. Die Spuren Alt-Berlins sind weitgehend, aber nicht völlig verwischt. Der Senat von Berlin will daher in geeigneter Weise zur Wiedererkennung beitragen. Zum Petriplatz schreibt er in einem Plaungsdokument: „Städtebauliches Ziel ist es, die besondere Bedeutung dieses Ortes unter Einbeziehung archäologischer Spuren wieder erlebbar zu machen. Der Petriplatz soll in historischer Kontur, aber zeitgemäßer Gestaltung neu entstehen.“ (s. Petriplatz/Breite Straße bei www.stadtentwicklung.berlin.de) Am Ort der früheren Petrikirche ist ein interkonfessionelles Bet- und Lehrhaus – nunmehr House of One – geplant. Der Platz wird umgeben sein mit einer urbanen Mischung aus Wohnungen, Läden, Gaststätten und Büros sowie einem archäologischen Besucherzentrum.

Das House of One entsteht nach Plänen des Berliner Architekturbüros Kuehn Malevizzi. Beim Bau soll große Rücksicht auf die archäologischen Überreste der einstigen Petrikirchen genommen werden. Im Untergeschoss wird eine acht Meter hohe Halle die Überreste der historischen Gebäude angemessen präsentieren.

Ob dieser produktive Ansatz realistisch ist, nämlich die alte Stadt in der neuen wieder zu erkennen, wird beim Besuch der Lokationen als Problem offenbar. Das Cöllnische Rathaus soll seine Kubator im Hotel Capri spiegeln. Dies ist an der Kreuzung Gertraudenstraße/Breite Straße einfach nicht erkennbar. Der ehemalige Cöllnische Fischmarkt ist eine banale Anhäufung von Straßenverkehr. Die umstehenden Gebäude sind mit den üblichen Betonfassaden verhüllt und schüchtern ein oder stoßen ab.

Hotel Capri als nachgebildete Kubator des Cöllnischen Rathauses? Die gesamte überbaute Fläche bietet keinen menschlichen Zugang.

Kommen wir zum Schluss auf den Punkt und entschlüsseln die vier Häuser an der Kleinen Gertraudenstraße.

Die Häuser an der Kleinen Gertraudenstraße unlängst…

Links das Geschäftshaus Gertraudenstraße 10-12, auch bekannt als Juwel-Palais. Es wurde 1897-98 von Georg Roensch und Max Jacob als Pfeilerbau mit Sandsteinfassade in gotisierenden Formen errichtet. Die Sichtbeziehung zur Petrikirche hat vermutlich bei der Wahl des gotischen Stils eine Rolle gespielt. Das Haus hatte nur leichte Kriegsschäden und wurde nach dem Krieg als Bürohaus genutzt. Dieses eindrucksvolle Gebäude ist das letzte erhaltene von vielen hochkarätigen Geschäftshäusern entlang der Gertraudenstraße, die den Krieg nicht überstanden haben. Aus jüngerer Zeit ist es bekannt durch das Geschäft Hochzeitsausstatter.

Mittig das Wohnhaus Kleine Gertraudenstraße 3/4. Es wurde um 1862 errichtet, Bauherr war Carl Eduard Achilles, ein umtriebiger Unternehmer. Das Haus dient heute als Hotel.

Schließlich auf der rechten Seite das Wohnhaus Scharrenstraße 17 aus dem Jahre 1780. Das Landesdenkmal beschreibt diesen Komplex:


Das erhaltene Ensemble historischer Bauten an der Gertraudenstraße 10-12 umfasst einen Baublock südwestlich des ehemaligen Standorts der Petrikirche und das Pfarrhaus von St. Petri an der Friedrichsgracht, darüber hinaus die alte Gertraudenbrücke, die noch den ursprünglichen Verlauf der Gertraudenstraße markiert. Der Wohn- und Geschäftshauskomplex zwischen Scharren-, Gertrauden- und Kleiner Gertraudenstraße sowie Friedrichsgracht besteht aus drei Gebäuden, die im 18. und 19. Jahrhundert erbaut und 1975 als „Traditionsinsel“ saniert worden sind. Im Inneren sind die Wohnhäuser komplett umgebaut, an den Fassaden wurden sie zum Teil frei rekonstruiert. Trotzdem vermitteln sie auf dem Gebiet des historischen Zentrum Köllns noch ein Bild von der ehemaligen kleinteiligen Bebauungsstruktur.

Nun wird die Häuserzeile aus historischen Berliner Zeiten gnadenlos abgedrängt zu Gunsten einer konfektionierten Architektur, die die Hauptstadt massenhaft überschwemmt.

So wird nach den Plänen des Stadtentwicklungssenats der Petriplatz einmal aussehen: links das Archäologische Zentrum mit Anbau, rechts das House of One, dazwischen ein Aufenthaltsraum mit Baum.

Die alte Stadt Otto Nagels erscheint nun als unendliche, zubetonierte Trostlosigkeit. Die maximale Verwertung des teuren Baulandes war oberste Handlungsmaxime. Otto Nagel sind diese Peinlichkeiten erspart geblieben. Seine Phantasie wäre überfordert worden.

Der am meisten reale und menschliche Ort am Petriplatz ist: das „Café am Petriplatz“. Es öffnet trotz ungemütlicher Umstände und lässt sich in den sozialen Medien von seinen Gästen loben.

Café am Petriplatz

(Axel Matthies)





Einladung zum VHS-Vortrag am 19. April 2023


Sorgen, wie der Frieden gewonnen werden kann

Die BIESDORFER BEGEGNUNG mit Daniela Dahn
am 1. März 2023

Im wohl erstmals seit der Pandemie wieder voll besetzten Heino-Schmieden-Saal gestaltete sich die Lesung zu dem jüngsten Buch der bekannten Publizistin „Im Krieg verlieren auch die Sieger – Nur der Frieden kann gewonnen werden“ zu einem nachdenklichen und inhaltsreichen Abend. Am Beginn erinnerte Dr. Niemann für unseren Verein an die Biesdorfer Begegnung vor fast fünf Jahren, lange vor diesem Krieg, mit dem Thema „Deutschland – Russland – Europa: Brauchen wir einander?“ und die, aus heutiger Sicht beklemmend, mahnenden Aussagen des damaligen Gastes Matthias Platzeck (nachzulesen auf unserer Vereinshomepage). Als Eröffnung der Lesung wählte Daniela Dahn ihren kritisch-analytischen Beitrag zur tendenziösen Berichterstattung vieler Medien über die große von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte Kundgebung „Aufstand für Frieden“ am Brandenburger Tor (siehe Berliner Zeitung vom 2.3.23), in der u.a. eine unzureichende Abgrenzung gegen rechts und die AfD unterstellt wird.

Biesdorfer Begegnung mit Daniela Dahn

Die im Anschluss von ihr gelesenen Abschnitte aus ihrem jüngsten Buch setzten sich mit der Vorgeschichte und Hintergründen dieses Krieges auseinander. Das betraf die Rolle und Ziele der USA und NATO ebenso wie des Aggressors Russland in diesem Konflikt, aber auch die Lage und Politik der Ukraine und den Einfluss des Westens auf diese. Anhand ausgewählter Beispiele – komplett nachzulesen in ihrem Buch – trug sie ihre Antworten auf kritische Fragen, auch Vorwürfe ukrainischer Bürger an sie als Mitunterzeichnerin des offenen Briefes „Deeskalation jetzt! Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!“ vom April 2022, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, vor. Die zentrale Fragestellung ihres jüngsten Buches widerspiegelt folgender Gedanke: „Der gegenwärtige Krieg ist eine einzige Katastrophe – für die ganze Welt, aber vor allem für die Ukraine. Wer immer darüber nachdenkt, fragt sich, wie dem geschundenen Land und seinen Menschen am wirksamsten zu helfen ist. Von Anfang an standen sich zwei diametrale Sichtweisen über die zweckmäßige Unterstützung gegenüber – Waffen oder Waffenstillstand. Das unbestrittene Recht auf bewaffnete Verteidigung gegen einen Angriffskrieg oder bestreitbare diplomatische Lösung. Ein Kriegsende als Siegfrieden nach opferreichen Kämpfen auf dem Schlachtfeld oder mit Blick auf die allseitigen Fehler in der Vorgeschichte sieglos, mit beidseitigen Kompromissen am Verhandlungstisch.“

In dem sich anschließenden Gespräch, moderiert von der ehemaligen Bezirksbürgermeisterin, Frau Dagmar Pohle, brachten zahlreiche TeilnehmerInnen mit Fragen und Statements ein breites Spektrum ihrer Sorgen vor einer Ausweitung des Krieges und den Möglichkeiten, ihn zu beenden, zum Ausdruck. Fragen nach der Rolle der von Daniela Dahn bezeichneten „selbstgleichgeschalteten“ Medien, nach den Brzezinski-Doktrinen zu einer Vorherrschaft der USA, dem Sinn der Sanktionen gegen Russland, dem Widerstand gegen den Krieg in Russland selbst, nach Profiteuren an diesem Krieg bis hin zum gerade bekanntgewordenen 12-Punkte-Plan Chinas und vor allem aber nach dem „Wie weiter?“ waren von besonderem Interesse.

Daniela Dahn reflektierte in ihren Antworten auch kritisch die Situation in der Friedensbewegung und in der Linken und formulierte als Aufgabe, sich auf die zentralen Forderungen zu konzentrieren, den Krieg zu beenden und dafür den Druck auf diplomatische, auf Verhandlungslösungen zu verstärken. Zum Abschluss der Veranstaltung hatten die TeilnehmerInnen die Gelegenheit, am Tisch der Buchhandlung Kohs (S-Bhf. Kaulsdorf) Bücher der Autorin zu erwerben und am Ende der nachdenklich stimmenden BIESDORFER BEGEGNUNG von der Autorin Daniela Dahn signieren zu lassen, wovon reger Gebrauch gemacht wurde.

(Dr. Heinrich Niemann, Marianne Schmidt)


Für ein friedliches Neues Jahr 2023


Ausstellung Jürgen Wittdorf: schwul sein im Kommunismus oder leben in der DDR?

Die aktuelle Ausstellung im Schloss Biesdorf mit Arbeiten von Jürgen Wittdorf, die in der Öffentlichkeit sehr gut ankommt, wird von westlichen Kunstkritikern häufig aufgeladen mit einer politischen Komponente – schwul sein im Kommunismus. Wer genauer hinguckt und sich des täglichen Lebens in der DDR erinnert, stellt schnell fest: Wittdorf war einer von 17 Millionen. Er hat gearbeitet, er hat Ziele gehabt, er wollte auch leben und er ist Kompromisse eingegangen. Nun regt er mit seinem Werk an, sich entscheidende Abschnitte in der Geschichte der DDR genauer anzuschauen.

Jürgen Wittdorf in seinem Berliner Arbeitszimmer

Jürgen Wittdorf, geboren 1932, stammt aus Karlsruhe. Die Familie zog bald nach Königsberg (Ostpreußen), weil der Vater dort Versicherungsdirektor geworden war. Ende 1944 begab sich die Familie auf die Flucht und landete im Erzgebirge; sicher auch, weil der Großvater Professor an der Dresdner Kunstgewerbeschule war. Neue Heimat wurde Stollberg, eine Kleinstadt zwischen Zwickau und Chemnitz. Hier absolviert Jürgen die 10. Klasse und belegt danach einen Zeichenkurs bei Walter Schurig. Er hatte schon als Kind viel und gut gezeichnet. Öfter fuhr er in die Dresdner Galerien, wo er sich zunächst für barocke Malerei interessierte. 1952 kann er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ein Studium aufnehmen, das er fünf Jahre später erfolgreich beendet. Er beginnt zu arbeiten, wird Mitglied des Verbandes Bildender Künstler und der SED.

Als Student in Leipzig ist Wittdorf oft im dortigen Zoo und zeichnet. Wir sehen von ihm vor allem große Tiere wie Elefanten und Flusspferde. Aus diesen Anfängen entsteht ein Auftrag des Kulturfonds: der Zyklus „Tiermütter und Kinder“, der in der Ausstellung ausgiebig gezeigt wird. Es sind viele gut beobachtete Szenen dabei, witzige und manchmal sogar erotische. Wittdorf erhält anschließend den Auftrag, die moderne Landwirtschaft in einem volkseigenen Gut zu beobachten: er sieht genau hin und zeichnet „Gepferchte Kälber“ und andere Szenen der Massentierhaltung. Im Gegenzug präsentiert er einen zufrieden grunzenden „Zuchteber“. Von Anfang an ist Jürgen Wittdorf den Motiven seiner Auftraggeber verbunden. Sie bestimmen sein Werk. Er will arbeiten und er will gut leben. Das ist seine Richtschnur.

Arbeiten aus dem volkseigenen Gut: links der „Zuchteber“

Zu Beginn der 1960er Jahre bekommt Wittdorfs Karriere starken Auftrieb. Auch dieser ist den Umständen der Zeit geschuldet. Nach dem Mauerbau setzt in der DDR eine Debatte ein, wie nun, endlich, mit dem Aufbau des Sozialismus Ernst gemacht werde. Das alte Argument, dass der Feind immer und überall und die Erhaltung der Staatsmacht das Allerwichtigste sei, zählt nicht mehr. Die Mauer war da – nun mussten Versprechen eingelöst werden. Die Gründergeneration der DDR, die um 1930 Geborenen, die in den 1950er Jahren studiert hatte, drängte nach vorn. Wichtige informelle Prozesse fanden vor allem im „FORUM“, der Studentenzeitung der FDJ, statt.

Erinnerung an das „FORUM“. Das Zweiwochenblatt wurde überraschend 1983 eingestellt

Kaderentscheidungen befördeten den Fortgang. Alexander Abusch wurde 1961 als Kulturminister von dem 34jährigen Hans Bentzien ersetzt, als stellvertretender Ministerpräsident blieb er allerdings Bentziens Vorgesetzter. In seinem Buch „Die Osteutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ beschreibt der Soziologe Wolfgang Engler diese Entwicklung: „Die energisch zupackenden Jungen fanden sich vielerorts, auf verschiedenen Ebenen, und sie fanden auch zusammen. Betriebs- und Fachdirektoren, die die Dreißig kaum überschritten hatten, waren zu Beginn der sechziger Jahre keine Seltenheit. Sie unterhielten enge Kontakte zu gleichaltrigen Ingenieuren, Städteplanern, Architekten, Kulturhausleitern, leitenden Redakteuren und Journalisten. Letzteren war es vornehmlich zu danken, dass der neue, unprätentiöse, sach- und erfolgsorientierte Stil dieser informellen Kreise Eingang in die umfassendere Öffentlichkeit fand.“

Die Emanzipationsbestrebungen artikulierten sich besonders im kulturellen Bereich. Allen voran der Spielfilm, dann Lyrik und Prosa, bildende Kunst und Musik, Dramatik und Theater erlebten in den frühen Sechzigern „eine bis dahin nicht gekannte und auch später in dieser Breite und Intensität nicht wieder erreichte Blüte“, wie Engler an anderer Stelle schreibt. Zur Erinnerung seien genannt: die Spielfilme „Der Fall Gleiwitz“ und „Der geteilte Himmel“ sowie der Auftakt der epochalen „Golzow“-Langzeitdokumentation. Im Lyrik-Bereich fanden öffentliche Lesungen vor hunderten jungen Leuten statt, aus denen Anthologien entstanden. Stephan Hermlin hatte diesen Prozess wesentlich angestoßen. Volker Braun, Wolf Biermann und die Kirsch’s waren hierfür Repräsentanten.

Anzeige für eine Lesung (Abb.: Wikipedia)

In der Prosa wurden Bücher wie „Ole Bienkopp“ von Erwin Strittmatter vorgelegt, ein Denkmal jener Jahre. Heiner Müller und Peter Hacks schrieben vieldiskutierte Theaterstücke. Als Walter Ulbricht in seiner Eigenschaft als 1. Sekretär des ZK der SED dem Chefredakteur der Studentenzeitschrift „FORUM“ Kurt Turba (34) den Vorschlag unterbreitete, sehr schnell die Leitung der Jugendkommission des Politbüros zu übernehmen und sofort ein Jugendkommuniqué zu schreiben und zu veröffentlichen, glich das bereits einer Palastrevolution gegen die Hardliner im Parteiapparat. Am Ende steht das, ansonsten öde, Jugendkommuniqué mit solchen Sätzen am 22.9.1963 im „Neuen Deutschland“:

  • Es geht nicht länger an, „unbequeme“ Fragen von Jugendlichen als lästig oder gar als Provokation abzutun, da durch solche Praktiken Jugendliche auf den Weg der Heuchelei abgedrängt werden.
  • Es muß ein für allemal Schluß damit gemacht werden, daß mancherorts Jugendliche durch bürokratisches Verhalten von Leitern und Erziehern, durch Unverständnis und Gängelei zum Opponieren verleitet werden.
  • Wir brauchen keine mit Thesen und Leitsätzen
    vollgestopften „Bücherwürmer“, sondern gebildete und vorwärtsdrängende Menschen, die sich nicht scheuen, mitten ins Leben zu greifen.

In diesem politischen und kulturellen Kraftfeld befindet sich Jürgen Wittdorf. In der bildenden Kunst gibt es Fortschritte in den Motiven und der Gestaltung allerdings zeitverzögert. Noch herrschen Ansichten von einem klassengebundenen Realismus, einer abzulehnenden künstlerischen Moderne und einer nötigen Reglementierung des Kunstbetriebs.

Zeitgeist: Rudolf Bergander, Das Argument. 1961

Dagegen stemmen sich Cremer, Sitte, Heisig und andere. Fritz Cremer etwa organisiert im Herbst 1961 die Ausstellung „Junge Künstler – Malerei“ und im darauf folgenden Frühjahr „Junge Künstler – Graphik und Plastik“ in der Akademie der Künste, die postwendend zu politischen Kontroversen führte. Otto Nagel, der sich für beide Ausstellungen als Präsident der Akademie der Künste stark gemacht hatte, wird als Präsident abberufen und auf den Stellvertreterposten geschoben. Wittdorf nimmt die Chance an, sich an der Auseinandersetzung zu beteiligen.

Nach seiner Tierepisode bezieht er sich nun auf Menschen; zuerst auf Kinder, die schwimmen lernen. Er erarbeitet sich viele Grundlagen, die er später in den Zyklus „Jugend und Sport“ fließen lässt. Wittdorf konzentriert sich zunächst auf die Darstellung von jungen Menschen. Junge Menschen, so das Bild der SED, lernen, studieren und arbeiten, um kühne Erbauer des Sozialismus zu werden. Wer anderen Lebensentwürfen folgte, war schnell ein Gammler oder Beatfan. Wittdorf sucht nach Allegorien, die die Jugendlichen in ihrer eigenen Welt, in ihrer eigenen Wahrnehmung zeigen. Er entdeckt den jungen Vater ohne Bart, das Liebespaar im Hauseingang oder das Motorrad mit der Sozia. Diese Bilder kommen an, sie werden aus den Zeitungen geschnitten und an die Wand gepinnt. Der Zyklus wird in der oben genannten Cremer-Ausstellung gezeigt. Ich erinnere mich noch gut, dass wir in der Schule über die Bilder sprachen und eine positive Resonanz zogen. Was an den Grafiken wichtig war – wir ahnten es meist nur -, ist die Pose bei Wittdorfs Leuten: wir nannten es damals lässig. Sie holten nicht weit aus, sie riefen nichts, sie standen einfach nur da und blickten aneinander vorbei. Mit dem Blick von heute: sie stehen da wie Models – cool. Mit dem Rückenwind des Jugendkommuniqués und dem bereits erarbeiteten Bekanntheitsgrad vor allem aus Buchillustrator wurde der Zyklus „Für die Jugend“ 10.000 Mal gedruckt und verkauft. Wittdorf war ein Star.

Zyklus „Für die Jugend“

1963 wird er mit der Erich-Weinert-Medaille ausgezeichnet, dem Kunstpreis der FDJ. Mit ihm prämiert werden Manfred Krug, Armin Müller-Stahl, Barbara Dittus und Christel Bodenstein. 1964 sind es dann Volker Braun, Heiner Müller, Jens Gerlach und Benno Pludra. Für sie alle begann in diesen Jahren ihre eigentliche Karriere. Doch bereits im Dezember 1965 ist alles vorbei: das 11. Plenum des ZK der SED zerschlägt alle Vorhaben und Pläne zur Modernisierung der DDR. Gunnar Decker hat diese historische Episode in seinem Buch „1965 – Der kurze Sommer der DDR“ präzise seziert.

Der FDJ-Zentralrat unterdessen lädt Jürgen Wittdorf ein, sich an der Arbeit der Ideologischen Kommission zu beteiligen und in deren Arbeitsgruppe Kultur mitzuwirken.

Einladung zur Mitarbeit in der Ideologischen Kommission

Wie lange eine Mitarbeit dort anhielt ist, nicht bekannt. Wittdorf blieb auf alle Fälle der kulturpolitischen Arbeit verbunden. Er leitete seit 1970 die Zentrale Galerie der Freundschaft, eine Ausstellung von prämierten künstlerischen Arbeiten – Zeichnungen, Bildern, Keramiken u.a. – von Kindern und Jugendlichen aus der ganzen DDR. Die Galerie wuchs aus Wettbewerben in den Kreisen und Bezirken hin zur Zentralen Ausstellung. Die fanden alle zwei Jahre statt und durften in Häusern wie dem Alten Museum in Berlin oder im Dresdner Albertinum präsentiert werden. Diese Arbeit hat Wittdorf außerordentlich in Anspruch genommen. Im Schloss wird ein Foto präsentiert, das ihn bei der Eröffnung einer solchen Ausstellung an der Seite der damaligen Spitzenfunktionäre Margot Honecker, Eberhard Aurich und Helga Labs zeigt.

Zuvor, von 1967 bis 1969, hatte der junge Künstler ein Meisterstudium bei Lea Grundig absolviert. Anschließend zog Wittdorf nach Berlin. Er hatte nun ein gesichertes Einkommen, er konnte gut leben und sich ein ausgefülltes Privatleben leisten. Er begann Kunst und Antiquitäten zu sammeln. Wittdorf wird als Genußmensch erinnert.

Der Künstler kann nun in den verbleibenden zwanzig Jahren der DDR in Ruhe und Sicherheit arbeiten. Was hat er daraus gemacht? Neben seiner Arbeit für die Zentrale Galerie übernimmt Wittdorf einen Zirkel im Haus der Jungen Talente, wo er zudem Abteilungsleiter wird, und bald darauf einen weiteren Zirkel im Haus des Lehrers am Alexanderplatz. Von den Weltfestspielen 1973 fertigt er Kohlezeichnungen mit langhaarigen Jungs in Jeans und Mädchen in Miniröcken, dazu den NVA-Soldaten inmitten junger Rocker. Diesmal erscheinen diese Zeichnungen gedruckt zwei Jahre später. In den 1980er Jahren bekommt er dann Kontakt zur Volkspolizei und übernimmt auch dort einen Zirkel. Er erhält zudem den Großauftrag, in einer VP-Kantine am damaligen Kotikow-Platz (Petersburger Platz) in Friedrichshain, seiner unmittelbaren Heimat, eine Wand mit Keramiken zu gestalten. Mit Keramik wurde Wittdorf durch die Zentralen Galerien der Freundschaft bekannt. Es gefiel ihm, den Teller als Malgrund zu nutzen. Er fertigte für die Kantine etwa 100 Teller an. Leider wurden die Arbeiten nach der Wende zerstört. Auch für das Sportforum Hohenschönhausen schuf der Künstler Keramiken.

Ein anderer Teller: das Sommerhaus in Carwitz.
(Foto: Sammlung Jürgen Wittdorf)

In den 1980er Jahren wandte Jürgen Wittdorf sich wieder verstärkt Porträts und Stilleben zu – Genres, die er in jungen Jahren ausgiebig bedient hatte.

Porträts

Seinem Werk in den späteren Jahren der DDR fehlt indes der Glanz. Ganz offensichtlich, so mein Eindruck, sind ihm nicht mehr die großen Würfe gelungen. Er findet kaum eigene, gesellschaftlich relevante Themen, sondern lässt sich aus der Umgebung seiner Zirkelarbeit inspirieren. Seine kulturorganisatorische Arbeit bestimmt ihn. So bleibt ein Fazit zwiespältig, aber doch positiv: Nirgendwo läuft der Künstler, so der Kritiker Volkmar Draeger abschließend, der staatlichen Linie direkt zuwider und porträtiert doch auf seine eigene Weise, wie sich die Jugend in der DDR verhielt. Zu Recht gelte Jürgen Wittdorf deshalb als – vielleicht unabsichtlicher – Chronist des jungen Lebens im untergegangenen Sozialismus.

Dass Jürgen Wittdorf schwul war, ist zu DDR-Zeiten weniger aufregend als es heute dargestellt wird. 1968 strukturierte die DDR ihr Strafgesetz um, der §175 Strafgesetzbuch fiel weg – in der Bundesrepublik blieb er. Natürlich gab es deshalb in der DDR keinen Schwulen-Hype. Die Männer blieben unter sich und verzichteten auf Auffälligkeit. Dennoch entwickelte sich ab den 1970er Jahren, auch unter dem Einfluss der Schlussakte von Helsinki, ein aufgeklärteres Verhältnis zur Homosexualität. Die Akzeptanz nahm zu. Ostberlin wurde ein Zentrum für schwule Männer. Wer konnte, zog hierher. Dort, wo die Szene lebte, waren auch die Männer – im Prenzlauer Berg, in Friedrichshain, in Mitte. Kneipen und Treffpunkte gab es nicht nur dort, sondern sogar in den vornehmen Rathaus-Passagen. In den 1980er Jahren zog das Thema Homosexualität auch stärker in die gesellschaftlichen Diskurse. Die Zeitschrift „Deine Gesundheit“ spielte dabei eine Vorreiterrolle, auch der „Sonntag“ und das „Magazin“ diskutierten. Schon vor dem Film „Coming out“ erschien das Buch „Homosexualität. Herausforderung an Wissen und Toleranz“ von Professor Reiner Werner. Und es kommt 1990 zu der Konstellation, dass schwule Männer aus der DDR um ihre Freiheit fürchten müssen:

Artikel in der Frankfurter Rundschau

Der §175 Strafgesetzbuch wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst im Jahre 1994 getilgt.

Mit dem Ende der DDR fällt Jürgen Wittdorf in ein sehr tiefes Loch. Alle seine Beschäftigungsverträge werden 1990 gekündigt. Er ist 58 Jahre alt und steht vor dem Nichts. Er, der von seiner sexuellen Orientierung nie Aufhebens gemacht hatte, ist auf sich selbst zurück geworfen und beginnt zu grübeln. Seine Homosexualität gestand er sich erst mit fast 30 Jahren ein, eigentlich wollte er nicht schwul sein. Mit seinen vielen Zeichnungen zu den Zyklen „Jugend“ und „Jugend und Sport“, so erinnert er sich später, habe er sein inneres Outing sublimiert. Vielleicht kommt daher die große Klasse dieser Arbeiten.

Im Alter findet der Künstler nun Halt bei Freunden, er zeichnet konsequent aus schwuler Perspektive, kokettiert mit Tom of Finland oder besucht Body-Building-Wettbewerbe, um dort zu zeichnen. Er sucht Kontakt zum Schwulen Museum und kehrt zurück in die Öffentlichkeit mit Ausstellungen dort und in Lichtenberger Galerien. Am Ende wird Jürgen Wittdorf dement, aber herzlicher. Er weiß, dass er als Künstler wieder anerkannt ist. Er setzt kein Testament auf. Die Bilder, die seine große Wohnung in der Kreutzigerstraße geschmückt hatten, landen nach seinem Tod im Jahr 2018 in einer Nachlassversteigerung. Der ehemalige Zeichenschüler Jan Linkersdorff kauft mit Unterstützung der Studio Galerie Berlin das Werk von Jürgen Wittdorf auf und stellt es der Öffentlichkeit zur Verfügung. Auch der Privatsammler Boris Kollek erwirbt eine Reihe von Arbeiten. Nun ist im Schloss Biesdorf die größte Wittdorf-Ausstellung anläßlich seines 90. Geburtstages zu sehen. Ein Besuch bis zur Finissage am 10. Februar 2023 ist sehr zu empfehlen.

Hin und wieder wird die Frage gestellt, von wem Wittdorf für seine nackten Körper inspiriert wurde. Bei meinen Recherchen bin ich auf einen sowjetischen Künstler gestoßen, den er gekannt haben wird. Jürgen Wittdorf war seit 1962 mehrere Male in der Sowjetunion. Bilder von Künstlern aus der Sowjetunion waren damals in Zeitschriften, Drucken und Büchern immer zu sehen. Der Mann heißt Alexander Deineka. Er hatte in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg und danach eine Phase, in denen er junge Männer malte.

Alexander Deineka, Nach dem Wettkampf. 1937

Alexander Deineka, Brigade im Urlaub. O.J.

Von den vielen Rezensionen, die zur Ausstellung erschienen sind, gefiel mir die von Gustav Seibt in der „Süddeutschen“ am besten. Seibt schreibt dort: „Zu den etwas traumhaft anmutenden Aspekten der Kunstgeschichte der DDR gehört es, dass dort Zeichenkurse für Volkspolizisten angeboten wurden. Oder, dass Organisationen und Betriebe einzelne Künstler ‚adoptierten‘, denen sie Aufträge gaben und Werke abnahmen und so zu ihrem Lebensunterhalt beitrugen. Die dahinterstehende Idee war, die Kunst, das einst den herrschenden Klassen vorbehaltene Schöne, in die Lebens- und Arbeitswelt der Massen zu tragen. Aus Hofkünstlern wurden Betriebskünstler. Wenn man darüber nachdenkt, ist das alles andere als lächerlich.“

Zum Schluss eine Tusche-Zeichnung, die ich erst sehr spät entdeckt habe: das ist ganz offensichtlich Tadzio aus dem legendären Visconti-Film „Tod in Venedig“. Der Film kam 1974 in die Kinos der DDR, im gleichen Jahr fertigte Wittdorf diese Zeichnung.

Ohne Titel. 1974

(Axel Matthies)


Überraschende Ausstellung mit Werken Otto Nagels im Museum Eberswalde

Wir möchten alle Freunde Otto Nagels auf eine Ausstellung im Museum Eberswalde aufmerksam machen. Sie umfasst 19 Werke ist noch bis zum 2. April 2023 zu sehen. Die Ausstellung wird begleitet von einem ersten wissenschaftlichen Katalog zu Leben und Werk dieses herausragenden Realisten des 20. Jahrhunderts. Weiteres entnehmen Sie bitte dem untenstehenden Flyer.

Inzwischen ist der Katalog erschienen. Er ist im Buchhandel zum Preis von 10 Euro erhältlich.


Jahresmitgliederversammlung und Wahl des neuen Vorstandes

Unser Verein „Freunde Schloss Biesdorf e.V.“ führte am 13. Oktober 2022 seine planmäßige Jahresmitgliederversammlung im Heino-Schmieden-Saal des Biesdorfer Schlosses durch. Versammlungsleiter Prof. Gernot Zellmer stellte eingangs die Wahlfähigkeit der Versammlung fest und übergab an den Vorstandsvorsitzenden Dr. Heinrich Niemann zu ergänzenden Bemerkungen am Bericht des Vorstandes an die Mitgliederversammlung.

Der 24 Seiten lange Bericht legt eine substanzielle bürgerschaftliche Leistung für das Ensemble Schloss und Park Biesdorf dar. Dr. Niemann nannte besonders diese Arbeitsfelder:

  • Festliche Erinnerung an das 5jährige Bestehen des wieder errichteten Schlosses Biesdorf und das 20Jährige Bestehen unseres Vereins im Jahre 2021
  • Würdigung der Kunstausstellungen im Schloss, insbesondere die Beteiligung des Kunstarchivs Beeskow bzw. des Museums für Utopie und Alltag. Dr. Niemann würdigte die aktuelle Ausstellung zu Jürgen Wittdorf, die eine breite Besprechung in der Berliner und überregionalen Presse und sogar im britischen „The Guardian“ fand.
  • In vielen Führungen konnten wir hochinteressierte Gäste von außerhalb des Bezirkes begrüßen. Das Interesse am Ensemble wächst immer mehr.
  • Otto Nagel steht weiterhin im Fokus unserer Vereinstätigkeit. Gemeinsam mit Vertretern der Initiative „Otto Nagel 125„ haben wir weitere Schritte vereinbart, um den Ehrenbüger Berlins in seiner Vaterstadt Berlin besser heimisch zu machen. Ein Buchprojekt zu Otto Nagel soll im Frühjahr 2023 realisiert werden.
  • Unser Verein erwartet vom Bezirksamt endlich eine Beschlusslage zur konzeptionellen Betreibung des Ensembles. Nach sechs Jahren ist das Pflicht.
  • Das Ensemble als historischer Ort wird durch Führungen, Vorträge und Veranstaltungen immer besser erfahrbar. Das beinhaltet auch seine temporäre Nutzung als Soldatenfriedhof. Unser Verein fordert, dass der verschmutzte Gedenkstein endlich gesäubert wird. Wir hatten unsere Hilfe angeboten.
  • Das Biesdorfer Blütenfest wird seit 2020 nicht mehr durchgeführt. Unser Verein sieht im Blütenfest eine herausragende kulturelle Veranstaltung, die dem Bezirk eine eigene Authentizität gegeben hat. Es ist erstrebenswert, diese Tradition fortzusetzen.
  • Der Vorsitzende schätzte die Finanzlage des Vereins als grundsolide ein.

Sodann trug Frank Holzmann den Bericht der Rechnungsprüfer vor. Beeindruckt habe der Finanzbericht insbesondere durch die Detailliertheit und Tiefe der Kostenanalyse. Er schlug vor, den Vorstand und die Schatzmeisterin zu entlasten.

In der Diskussion wurden weitere Fragen vorgetragen:

  • Weitere Bemerkungen zum verschmutzten Gedenkstein
  • Dr. Freier trug Ergebnisse zur Arbeit an Otto Nagel vor. Neben dem geplanten Buchprojekt erinnerte er an den bisher ein Mal vergebenen Otto-Nagel-Preis im Jahr 1984 durch den Bezirk Wedding von Berlin. Vierzig Jahre danach wäre ein Anlass, ihn erneut zu stiften. Frau Regina Kittler als Vorsitzende des Kulturausschusses der BVV Marzahn-Hellersdorf schlug vor, einen entsprechenden Antrag an die BVV zu formulieren.
  • Die Mitgliederversammlung sprach sich für eine Fortsetzung der bewährten Feste, insbesondere des Biesdorfer Blütenfestes, aus.
  • Es wurde über Mitgliederentwicklung diskutiert. Lutz Wunder vom Kulturring Berlin e.V. trug ein Problem aus seinem Verein vor. Da viele Nutzer von gemeinnützigen Einrichtungen nicht Mitglieder der Trägervereine werden, aber kostenlos Angebote und Ressourcen nutzten, sollte eine geeignete Form der Kostenbeteiligung erwogen und angewendet werden. Das beträfe auch die Unfallversicherung bei der Nutzung von Angeboten.
  • Es sollte geprüft werden, ob der Förderverein des Otto-Nagel-Gymnasiums Mitglied unseres Vereins werden könne. Damit ergebe sich die Möglichkeit der Synergie durch GymnasiastInnen in beiden Vereinen, die sicherlich beiden Seiten nutzen könnte.

Sodann übernahm Frau Regina Kittler die Leitung der Wahl des neuen Vorstandes. Im Prozedere wurde der Vorstand entlastet und ein neuer Vorstand gewählt:

Vorsitzender: Dr. Heinrich Niemann
stellv. Vorsitzender: Prof. Dr. Gernot Zellmer
stellv. Vorsitzender: Dr. Klaus Freier
Schatzmeisterin: Marianne Schmidt
Beisitzerin: Ninon Suckow
Beisitzerin: Annette Nieczorawski
Beisitzer: Axel Matthies

Der neue Vorstand v. l.: Hr. Zellmer, Hr. Niemann, Fr. Nieczorawski, Fr. Schmidt, Hr. Freier, Hr. Matthies. Es fehlt Fr. Suckow

Im Gedenken an Dr. Günter Peters

Günter Peters gilt als „Erbauer Marzahns“ und hatte als Stadtbaudirektor von Ost-Berlin in den 1960er und 1970er Jahren an der komplexen Gestaltung der damaligen Hauptstadt der DDR mitgewirkt und an den Planungen für die neue Großsiedlung Marzahn federführend gearbeitet. Günter Peters war der Motor für die Sicherung und den historischen Wiederaufbau  des seit Jahrzehnten erheblich in Mitleidenschaft gefallenen Schlosses Biesdorf. Er setzte sich außerdem für die Rekonstruktion der Alten Dorfschule in Marzahn ein, die heute das Bezirksmuseum beherbergt.


Zur Erinnerung an den Bildhauer Michael Klein

Michael Klein bei der Enthüllung der Büste Dr. Günter Peters


Ergänzungen zu „Wir wohnten im Schloss Biesdorf“

Zum Vortrag mit Frau Hannelore Bündig am 16. Februar im Schloss Biesdorf waren 40 Menschen gekommen; vor allem alte Biesdorfer, die sich lebhaft erinnerten. Das war für die pandemiebedingten Besuchseinschränkungen nahezu sensationell und unterstrich das Bedürfnis vieler Menschen, sich des „normalen Lebens“ zu erinnern. Die erzählte Geschichte, anstatt der geschriebenen offiziellen, erlebte eine Sternstunde.

An Geschichten im Schlosspark gibt es eine Reihe von Erinnerungen. Eine Frau erzählte von den Ferienspielen. Im Park hätten ganz viele Zelte gestanden, bestimmt 30, in denen die einzelnen Gruppen untergebracht waren, bei schlechtem Wetter spielten und aßen. „Es war damals im Park viel heller als heute!“ Das kann sein, denn vor 50 Jahren waren die Bäume kleiner.

Eine andere Frau, die mit ihrer Familie in der Paradiessiedlung wohnte, war oft in der Kinderbibliothek im Schloss, wo sie viel las und Bücher entlieh. Ein ganz persönliches Moment ihrer Erinnerung: das Sofa der Familie Poerschke aus der Wohnung im Schloss zierte ihre erste Studentenwohnung.

Eine Reihe von Erinnerungen waren mit den „Russen“, den Soldaten und Offizieren der sowjetischen Armee, verbunden. Frau Bündig hatte über Bestattungen im Park berichtet, die sie als Kinder verfolgt hatten. Nach ihrer Erinnerung gab es Bestattungen nur von Offizieren am heutigen Albert-Brodersen-Weg. Bestattungen im Pleasure ground waren ihnen nicht erinnerlich. Das wird so gewesen sein, denn die Familie wohnte ja erst seit 1952 im Schloss. Die meisten Beerdigungen fanden aber in den Jahren nach Kriegsende statt. Wenn es Beerdigungen gab, so ein alter Biesdorfer, kamen sie aus ihrem Lager, das dort war, wo heute das Theater am Park steht, über den Anger und dann hoch zum Schloss. Die Paradiessiedlung war von der Roten Armee beschlagnahmt worden, das daneben befindliche Zwangsarbeiterlager zur Unterbringung der Mannschaften genutzt worden. Musik war bei den Bestattungen immer dabei.

Frau Bündig erzählte noch von zwei Frauen, die sie nach dem Krieg kennen gelernt hatte: Steffie Spira und Ella Pilzer. Beide waren 1947 aus der Emigration zurück nach Deutschland gekommen. Vertrieben hatte sie der rassistische Antisemitismus der Nazis. Als die Familie Poerschke in dem kleinen Zimmer in der Ketschendorfer Straße wohnte, kam die Schauspielerin öfter vorbei. Ihr gehörte wohl, so Frau Bündig, die Wohnung. Ella Pilzer hatte auf das Kind Hannelore wohl einen größeren Einfluss. Sie brachte Hannelore das gute Benehmen bei: wie man am Tisch ißt, sich die Haare bindet und die Kleider trägt. Frau Bündig ist ihr in der Erinnerung sehr dankbar dafür. Es habe sie geprägt.

Die Familie Poerschke bekam die Ehre, so Frau Bündig, kurz vor der Eröffnung des wiederaufgebauten Schlosses Biesdorf im Spätsommer 2016, das Haus exklusiv besuchen zu dürfen. Das habe die Familie sehr zu schätzen gewusst.

Damals fuhr der O-Bus 37 durch Biesdorf,
hier an der Haltestelle BWF Bürknersfelde. Unten der Fahrplan

„Wir wohnten im Schloss Biesdorf“

Vor einiger Zeit kam ich mit einer älteren Frau ins Gespräch, die während einer Veranstaltung im Biesdorfer Schloss aufgeregt ausrief: „Keiner redet darüber, dass hier einmal Familien gelebt haben.“

Durch zu viele schlecht recherchierte Medienberichte verbreitet sich bei Unwissenden in der letzten Zeit die Überzeugung, das Schloss wäre von 1945 bis zur Sanierung eine Ruine gewesen. Erst jetzt wäre alles schön, wie im Märchen…

Trotz eines miserablen Bauzustandes – das wissen wir seit der peniblen Sanierung dokumentarisch – wurde das Schloss immer genutzt: als Dorfklub, als Kreiskulturhaus, als Bibliothek und zuletzt als Soziales Stadtteilzentrum. Allen Widrigkeiten zum Trotz setzten viele Menschen ihre Kraft ein, das Schloss als gemeinnützige Einrichtung zu erhalten und zu betreiben.

Dennoch bleiben Wissenslücken. Eine wollen wir jetzt schließen. Sowohl nach dem 1. als auch nach dem 2. Weltkrieg waren im Schloss Zimmer bzw. Wohnungen eingerichtet worden, um die Wohnungsnot zu mildern. Die oben erwähnte Frau, Hannelore Bündig, hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben und Fotos aus dem Familienalbum dazu gelegt. Wir wollen sie Ihnen präsentieren.

Frau Hannelore Bündig

Für uns war das Schloss nichts Besonderes

Für meinen Bruder Werner und mich war das Schloss nichts Besonderes. Von 1952 bis 1982 war es unser Zuhause, unser Elternhaus. Unsere Adresse war: Alt-Biesdorf 55.

Vor dem Krieg wohnten wir in Biesdorf in der Annenstraße. Unsere Mutter fuhr dann mit uns nach Schlesien zu den Großeltern. „Da sind wir vor den Bomben sicher!“ 1945 mussten wir dann auf die Flucht, über viele Umwege zurück nach Biesdorf. Die Wohnung in der Annenstraße gab es nicht mehr, dann eine winzige Bleibe im Ketschendorfer Weg. Das Haus gehörte wohl der Schauspielerin Steffie Spira, die wir dort oft trafen.

1950 kam unser Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Nun wurde es wirklich eng bei uns. Dann die Riesenüberraschung: Wir bekamen 1952 eine große Wohnung im Schloss zugewiesen. Mein Vater hatte im Schlosspark bereits eine Anstellung als Gärtner. Er blieb auf dieser Stelle bis zum Renteneintritt. Die Wohnung: zwei Zimmer, Küche, Ofenheizung, Klo im Keller (Wendeltreppe), Waschküche im Keller, Zugang von außen, großer Boden – ein Restbestand der oberen ausgebrannten Etage. Hier hatte bald mein Bruder sein Reich.

Gezeichnete Lage der Wohnung. Sie befand sich auf der Nordseite des Schlosses – dort, wo jetzt Empfang, Geschichts-raum und das Café sind (Zeichnung Werner Poerschke)

Zu der Zeit wohnten im Schloss bereits die Familie Schütze auf der Südseite und im Souterrain der Parkwächter Jäckel mit seiner Frau. Etwa 1956 erfolgte dann der Einbau einer Zentralheizung und eines Badezimmers, das neben unserem Wohnzimmer eingerichtet wurde. Inzwischen war unsere Wohnung ein gemütliches Zuhause geworden, obwohl wir Kinder kein eigenes Zimmer hatten. Ich schlief im großen Schlafzimmer, mein Bruder im Wohnzimmer.

Natürlich haben wir dann im Laufe der Zeit mehr über das „Schloss“ bzw. die Villa und die Siemens‘ erfahren. Aber nach wie vor fanden wir es nicht erwähnenswert anderen zu erzählen, dass wir im „Schloss“ wohnen. Dazu war es viel zu einfach: Nordseite usw. Manche Schulkameraden lebten viel komfortabler. Erst Jahre später lernten wir Wohnung und Park schätzen und lieben.

Rodeln und Planschen im Park

Aber die Wiese vor unserer Wohnung gehörte uns. Hier lagerten wir auf dem Rasen, hier wurde die Wäsche getrocknet. Übrigens gab es das Rosenbeet schon damals, angepflanzt von meinem Vater.

Wäsche trocknen im Schlosspark

Auf den Wegen spielten wir Hopse, Ball und Seilspringen. Der Teich war recht sauber, wir sprangen da im Sommer schon mal rein. Die Fontäne sprudelte auch immer. Da habe ich ein Bild mit meiner Freundin.

Hannelore (re.) mit ihrer Freundin Rosi vor der sprudelnden Fontäne des Schlossteiches 1959

Im Winter, wenn der Teich mal zugefroren war, liefen wir darauf Schlittschuh. Gerodelt wurde von der Rückseite des Eiskellers, das war die höchste Stelle, und dann runter auf die Wiese. Ansonsten war der Eiskeller aber tabu! Das war eines der wenigen Verbote, das meine Mutter ausgesprochen hatte. Nur ein Mal haben wir ihn von innen gesehen. Als das Schwimmbassin gebaut wurde, das war Ende der 1950er Jahre, badeten wir dort. Das Wasser war sauber, man konnte die Fliesen am Boden erkennen.

Schwimmbecken nahe S-Bahntrasse und Blumberger Damm

Der Park gehörte uns und unseren Freunden im Sommer wie im Winter. Es gab ja nur wenige Besucher. So richtig eroberten wir das ganze Gelände aber erst, als die Gräber der russischen Soldaten nicht mehr da waren. Die Begräbnisse, die in den Jahren davor stattfanden, haben wir von unserem Küchenfenster aus mit Neugier und Beklemmung beobachtet.

Turmbesteigungen

Zu den ganz besonderen Ereignissen in den ersten Jahren zählt das Besteigen des Turms für mich, meinen Bruder und meine Freundinnen. Durch unsere Wohnung konnte man über den Boden (Teil der ehemaligen 1. Etage, provisorisch mit Brettern abgesichert) zum Turm gelangen und dort mit Leitern in mehreren Abschnitten hinaufsteigen. Es war herrlich! Es war bestimmt nicht ganz ungefährlich, aber toll. Mein Bruder hat dort oben oft allein gesessen und gelesen, wir Mädchen, damals um die 14 Jahre alt, hatten die Jungen unserer Klasse unter Vorwänden in den Park bestellt und dann von oben überraschen wollen. Es gab sogar ein „Turmlied“:

Denke man ja nicht, du gingest mir zu Herzen,
weil wir uns grüßen und miteinander scherzen.
Nein, ich bleibe gern allein,
Nein, ich bleibe gern allein,
Dies soll nur ein Wechselspiel und weiter gar nichts sein.

Wir waren oft auf dem Turm. Dort fühlten wir uns großartig. Das sind mit meine schönsten Erinnerungen. Spätestens 1958 war dann aber Schluss. Der Zugang wurde gesperrt.

Angst vor den Schlossgeistern

So um die Zeit als ich 14 Jahre alt war, gab ich doch manchmal an, dass ich im Schloss wohnen würde. Dabei vergesse ich nie die Angst, die ich hatte, wenn ich im Dunkeln nach Hause musste. Vom Bahnhof Biesdorf rannte ich durch den Park (nachdem die rote Mauer des Friedhofs weg war) im Dauerlauf. Es gab ja keine Lampen. Von der Straße Alt-Biesdorf durch den Säulengang (Haupteingang, Portikus): Angst, Angst, Angst! Oft musste mich mein Bruder abholen, aber dazu hatte er auch nicht immer Lust und Zeit. Auch das Fenster im Schlafzimmer, das zur Terrasse hinaus ging, erfüllte mich mit Angst. Da könnte ja jemand einsteigen. Denn der Park wurde immer belebter. Also, es hatte auch seine Schattenseiten, Schlossbewohner zu sein.

Kulturhaus und Familie

Die Zeit, als dann ab 1958 das Kulturhaus auf der Südseite langsam einzog, war toll. Die Familie Schütze war inzwischen ausgezogen. Jedes Wochenende spielte Live-Musik und wir tobten uns richtig aus. Meine Mutter Herta Poerschke war die „Frau für alle Fälle“: Hausmeisterin, Trösterin für Liebeskummer, sie schmierte die Schmalzstullen und vieles mehr. Mein Bruder regelte oft den Einlass und den Getränkeverkauf. Am Wochenende war das Kulturhaus ein bißchen wie Familienbetrieb.

In den Jahren 1959/60 hatte der Kulturhausleiter ein Atelier für zwei Künstler aus Pankow eingerichtet: Roland Spörl und Baldur Schönfelder. Spörl verstarb leider schon früh – er wird mit seinem Werk der Berliner Schule zugerechnet. Baldur Schönfelder studierte seinerzeit an der Kunsthochschule Weißensee und war später Meisterschüler von Waldemar Grzimek. Er war lange Jahre Professor in Weißensee. Als Bildhauer schuf er viele Plastiken im Auftrage des Magistrats von Berlin.

Eins seiner bekanntesten Werke: Drei Grazien,
Standort Hanns-Eisler-Straße im Prenzlauer Berg

Randale gab es nicht, aber viele schöne Stunden. Eine Freundin von mir lernte dort ihren Mann kennen, sie sind heute noch verheiratet. Eine weitere, die sich in den Schlagzeuger verguckt hatte, wurde von ihrem wütenden Vater weggeschleppt. Sie hatte keine Erlaubnis erhalten, zum Tanzen zu kommen. Ich selbst verliebte mich in den Klubleiter. Im Kaminzimmer feierten wir noch 1978 ein Klassentreffen. Mutter sorgte für alles. Ohne sie lief eigentlich nichts: Ferienspiele, Hundeausstellung, Jugenclub. Alle verließen sich auf sie, die immer im Hintergrund blieb. Eigentlich war sie 30 Jahre lang die „Schlossherrin“.

Mutter Herta Poerschke am Schloss 1983

Weitere Entwicklung ab 1970

Ab den 1970er Jahren begann sich der Betrieb aus dem familiären Milieu heraus langsam zu professionalisieren. Im Kaminzimmer wurde eine Gaststätte eingerichtet. Ich erinnere mich an die Faschingsveranstaltungen und die Bockbierfeste im Herbst. Im Turmzimer hatte die Abteilung Kultur des Stadtbezirkes ein Büro, das lange Zeit von Herrn Sell und anschließend von Herrn Kistenmacher geleitet wurde. Jeden Sonntag fand ein Briefmarkentausch statt. Donnerstags waren die Rentnernachmittage und freitags traditionell immer die Jugend-Disco. Auch Katzenausstellungen wurden nun organisiert. Im Park nahe der S-Bahn wurde der Indianerspielplatz erbaut. Am ehemaligen Gärtnerhäuschen nahe der heutigen B1 legte mein Vater einen Heidegarten an.

Geschäfte zum Einkaufen und Armeesiedlung

Mit dem Einkaufen war es damals in Biesdorf anders als heute. Die wichtigsten Geschäfte waren in Alt-Biesdorf und in der Oberfeldstraße. Von uns aus gingen wir zum Bäcker Glowania in der Straße Alt-Biesdorf, kurz vor der Ecke Oberfeldstraße. Mit dem Sohn Rudi ging ich in eine Klasse. Direkt an der Ecke war dann das Lebensmittelgeschäft Staaks. Es war ein tolles Familiengeschäft. Um die Ecke in der Oberfeldstraße waren dann ein Friseur, ein Arzt und gegenüber eine Kindereinrichtung. Dann weiter Richtung S-Bahn die Post und auf der gegenüber liegenden Seite der „Sachsenkonsum“. Die Armeesiedlung war 1952/53 gebaut worden. Dort zogen Offiziere ein, die in Strausberg stationiert waren. Zwei meiner Klassenkameraden wohnten dort. Mit beiden habe ich heute noch Kontakt. Sie können auch noch viel erzählen. Die Siedlung hieß bei uns nur Sachsensiedlung. Die Eltern meiner Freunde waren aber gar keine Sachsen. Also im „Sachsenkonsum“ gab es Lebensmittel, Fleisch und Gemüse.

Zeitgenössisches Foto vom S-Bahnhof Biesdorf

Hinter der Bahnschranke lag links dann die Kneipe Neumann, die ja nun abgerissen wurde. Da trank auch mein Vater gerne sein Feierabendbier. Wenn meine Mutter aber das Abendbrot fertig hatte und Vater noch nicht zu Hause war, wurde unsere Hündin Bella losgeschickt: hol Herrchen nach Hause. Bella rannte los und Herrchen kam sofort!

Blick in die Gaststätte Neumann. So schloss sie als „Paule“

Hinter der Bahnschranke rechts war dann noch die Eisdiele Orth. Dort trafen sich alle: Schüler, Jugendliche, Freundinnen. Hier gab es das beste Eis meines Lebens. Hier ließen wir unser ganzes Taschengeld.

Anfang, Mitte der sechziger Jahre haben mein Bruder und ich eigene Familien gegründet. Jetzt wurde das Schloss Mittelpunkt für unsere Kinder, die ihre Ferien und viele Wochenenden bei Oma und Opa verbrachten. Die Türen bei Familie Poerschke waren immer für alle Kinder, Enkel und Freunde offen.

Die Kinder der Familie im Park

(Axel Matthies)


Auszeichnung mit dem Ehrenamtspreis 2021


Anlässlich des Tages des Ehrenamtes werden in unserem Bezirk in jedem Jahr Menschen geehrt, die sich langjährig, kompetent und mit großem persönlichen Engagement um Sachverhalte und Dinge kümmern, für die im Alltag der Ämter und Verwaltungen oft kein Platz oder keine Zeit ist, ohne die aber ein vielfältiges gesellschaftliches Leben nicht denkbar ist.


In diesem Jahr wurden am 5. Dezember auch zwei langjährige Mitglieder vom Vorstand des Vereins „Freunde Schloss Biesdorf“ mit dem Ehrenamtspreis der BVV Marzahn-Hellersdorf ausgezeichnet: Prof. Gernot Zellmer und Axel Matthies. Und wie bei den vielen anderen Ausgezeichneten ebenfalls, gab es bei beiden gute Gründe für diese Ehrung.


Als stellvertretender Vereinsvorsitzender trägt Prof. Zellmer schon seit 2008 aktiv zu einer inhaltsreichen und außenwirksamen Vereinsarbeit bei. Verantwortlich für die gemeinsame Vortragsreihe mit der Volkshochschule im Schloss Biesdorf sorgt er einmal im Monat mit interessanten Themen und sachkundigen Referenten für spannende Vorträge zu regionalen und überregionalen Themen.


Axel Matthies – seit 2013 Vereinsmitglied – ist das „kulturelle Gewissen“ des Vereins. Mit Sachkenntnis, Engagement und viel Detailwissen informiert er über kulturelle Höhepunkte im Stadtbezirk in Gegenwart und Vergangenheit. Besonders am Herzen liegen ihm die vielen – zum Teil vergessenen – Künstler und Kulturschaffenden, die in Marzahn-Hellersdorf gelebt
haben und um die sich der Stadtbezirk mehr kümmern sollte. Intensiv beschäftigt ihn die Frage nach der immer noch nicht vorliegenden Gesamtkonzeption für die Entwicklung des Schlosses Biesdorf zu einem überregionalen Ort der Kultur und Begegnung.

Lieber Axel, lieber Gernot, herzlichen Dank für Euer langjähriges bürgerschaftliches Engagement im Verein – Ihr habt die Auszeichnung und öffentliche Würdigung dafür vollauf verdient.
Ohne Euch wäre der Verein nicht das, was er heute ist!

Prof. Gernot Zellmer

Axel Matthies

Sanierung des Biesdorfer Schlossteiches verschoben

Mit Genehmigung des Bezirksjournals Marzahn-Hellersdorf veröffentlichen wir einen Beitrag aus der November-Ausgabe 2021. Der Artikel von Sabine Flatau schildert exakt den aktuellen Stand zur Sanierung des Biesdorfer Schlossteiches.

Besser zu lesen in diesem Link.


„Wir üben weiter!“ Gedenken an Ronald Paris

Die Familie Roland Paris‘ richtete gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Prof.-Ronald-Paris-Stiftung am 6. November eine Gedenkveranstaltung für den im September verstorbenen großen deutschen Maler aus. Der Saal der Stiftung war sehr gut gefüllt. Versammelt hatten sich zahlreiche Repräsentanten der ostdeutschen Kultur. Es wurde deutlich, wie breit der Wirkungskreis von Ronald Paris war.

Gedenken an Ronald Paris

Die Geschäftsführerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Daniela Trochowski begrüßte die Familie und die versammelten Gäste.

Kultursenator Klaus Lederer warf dann einen auch persönlichen Blick zurück. Er erinnerte daran, dass Ronald Paris sein Leben lang nicht der „Systemmaler“ war, als der er oft und gern tituliert wurde, sondern immer wieder aneckte als Künstler, der dialektisch denken und malen konnte. Lederer rief den frühen Streit um das Bild „Wartenberger Dorffestspiele“ von 1961 auf. Die Studentenzeitschrift »forum« hatte die Bauern gefragt: Erkennt ihr euch wieder? Ist euer Leben von Ronald Paris realistisch empfunden und in eurem Sinne gestaltet? Die Bauern waren der Meinung: Nein! Die Menschen wären zu ungefügig dargestellt, gingen zum Festtag barfuß und mit Kopftuch. Die Frauen waren darüber empört. Und die Funktionäre sahen auf dem Triptychon zu wenig neue Erntetechnik. Eine der Kritikerinnen schrieb Paris später: „Ich habe lange vor Deinem Bild gestanden, habe mich mit anderen Besuchern darüber unterhalten, und – ehrlich gesagt, heute gefällt es mir. Es ist sehr farbenfreudig und macht den Besucher dadurch froh. Ich nehme gerne so Verschiedenes von meiner damaligen Kritik zurück.“ Mit dieser Art Auseinandersetzung konnte Paris sehr gut leben. Lederer hob abschließend hervor, dass der Tod des Malers in allen großen deutschen Zeitungen respektvoll besprochen worden war.

Peter Baumbach erinnerte die Bilder seines Freundes als Fest der Sinne und Welt reicher Phantasie. „Du bist gegangen, aber die Kunst bleibt bei mir.“ Und er zitierte die Lebensmaxime Ronald Paris‘, die an diesem Vormittag noch öfter vorgebracht wurde: „Wir üben weiter.“

Der Grafiker Bernd Frank traf im Jahr 1971 mit Ronald Paris zusammen, als dieser die Ausstattung für die Inszenierung von Gozzis „König Hirsch“ durch Benno Besson an der Volksbühne besorgte. Frank war für die Gestaltung des Programmheftes zuständig. Als Paris den Entwurf mit den Worten „Das Ding ist gut“ abnickte, fiel dem jungen Frank ein Stein vom Herzen. (Nebenbei: Was waren das damals für Programmhefte!)

Klaus Tiedemann war Nachbar von Ronald Paris in dessen Rostocker Zeit. Er erzählte, wie der Thüringer Maler zum Meer fand. Als sechsjähriger Junge hätte Ronald bei einem Besuch der Insel Hiddensee das Meer zum ersten Mal gesehen. Es wäre für ihn ein Gefühl der inneren Befreiung gewesen. So habe sich sein Lebenskreis geschlossen, als die letzte Ausstellung in Wustrow auf Fischland stattfand.

Mit Klaus Ast hatte Ronald Paris eine Irland-Reise nach dem Vorbild Heinrich Bölls unternommen. Auch für sie habe sich Irland als Herz Europas erschlossen. Natürlich auch in den Pubs der grünen Insel. Ast dankte seinem Freund, der so klug und menschlich gewesen war.

Der Philosoph Karl-Friedrich Wessel blickte zurück auf den Philosophen Ronald Paris. Der Maler sei ein Meister des philosophischen Gesprächs gewesen. Wenn er die Kunst verteidigte, dann verteidigte er sie immer um der Menschheit willen. Als Wahrheitssucher habe der Maler immer die Umstände in ihrer Zeit analysiert. Ronald Paris hatte Vorlesungen bei Wolfgang Heise besucht, den Wessel als Genie bezeichnete. Für Paris seien die Vorlesungen bei Heise und die Gespräche mit ihm ein großes Glück gewesen, die seine ästhetische Aneignung der Welt geprägt hätten.

Kurz und knapp, wie es ihre Art ist, erinnerte Carmen-Maja Antoni an den Lebemann Ronald Paris: er trank Rotwein wie ein Lukulle und rauchte jeden Zigarillo wie einen Joint.

Abschließend dankten Isolde und Anna Paris ihrem Ehemann und Vater für ein langes, gemeinsames und erfülltes Leben.

Isolde und Anna Paris

Bei Schnittchen, Kuchen, Kaffee und Crémant klang das Gedenken in vielen Gesprächen aus. Der Maler mochte keine Trauerklöße.

Unser Verein war vertreten durch den Vorsitzenden Dr. Heinrich Niemann und Vorstandsmitglied Axel Matthies.

Einen Mitschnitt der Gedenkveranstaltung können Sie hier sehen.

(Axel Matthies)


Ronald Paris ist tot

Der Maler Ronald Paris ist am 17. September 2021 in seinem Haus in Rangsdorf gestorben. Er wurde 88 Jahre alt. Mit Paris geht ein bedeutender Künstler, der um die Wahrheit rang, der wahrhaftig sein wollte. Die DDR und der Sozialismus waren ein Hintergrund seines Schaffens, die Welt in ihrer Zerrissenheit zwischen Willkür, Gewalt und Schönheit ein weiterer. Dennoch war er nicht verzweifelt: „Alle Verhältnisse sind nur Verhältnisse. Sie sind von Menschen gemacht und können von Menschen verändert werden.“

Ronald Paris hinterlässt ein großes Werk. Neben den Arbeiten in Museen und Galerien bewahrte er in seinem Haus noch 150 Bildwerke auf. Mit Paris geht ein Künstler, der Freunde und Kollegen wie Hanns Eisler, Harry Kupfer, Heiner Müller, Franz Fühmann, Inge Keller, Ernst Busch oder Herbert Sandberg malte und zeichnete, sich in seinem Werk von ihnen inspirieren ließ. Wie sie gehört er zum kulturellen Gedächtnis Ostdeutschlands, das es zu bewahren gilt. Matthias Platzeck zeichnete den Maler im Jahre 2013 für sein Lebenswerk mit dem Ehrenpreis des Brandenburger Ministerpräsidenten aus.

Im Sommer 2020 sahen wir in der Galerie Schloss Biesdorf seine letzte Personalausstellung „Bilder vom Sein“. Trotz der Corona-Beschränkungen besuchten viele Menschen die Ausstellung und setzten sich mit seinem Werk auseinander. Es war nun der Abschied.

Ronald Paris bei der Vernissage seiner Ausstellung

(Axel Matthies)


Gedenkstein an sowjetischen Soldatenfriedhof

Aus Anlass des 80. Jahrestages des Überfalls des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 haben das Bezirksamt Marzahn‐Hellersdorf und der Verein „Freunde Schloss Biesdorf e.V.“ einen Gedenkstein am Rande des für gefallene Soldaten eingerichteten ehemaligen Grabfeldes im Schlosspark Biesdorf gesetzt.


Die Inschrift des Steines erinnert an den von 1946 bis 1958 im südlichen Teil des Schlossparks bestandenen sowjetischen Soldatenfriedhof mit vier Grabfeldern für Soldaten, Offiziere, zivile Tote und Kinder. Eine Mauer hatte die Stätte eingefriedet. Reste davon sind links nach dem Eingang zum Schloss von der B1/5 noch sichtbar. Das brandzerstörte Schloss Biesdorf diente zu jener Zeit ‐ mit einem Notdach versehen – als Trauerhalle.


Die damals gepflanzten Birken erinnerten genauso wie jene drei jungen, neuen Birken, die im vergangenen Jahr zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung, gepflanzt wurden, an diese Zeit. Die Toten wurden 1958 auf den Parkfriedhof Marzahn umgebettet, wo das heutige sowjetische Ehrenmal errichtet wurde.


Für das Bezirksamt nahmen die Bezirksstadträtinnen Juliane Witt und Nadja Zivkovic die Einweihung wahr.


Der Dank geht an das Grünflächenamt, das hier ein Zeichen gesetzt hat, damit der Gedenkort noch besser sichtbar ist. Der Bezirk bestätigt damit auch die Haltung, die hier befindlichen Erinnerungsorte, die an die Befreiung Berlins erinnern, in Ehren zu halten.

Der frisch gesetzte Gedenkstein (Foto: Ullrich Hieronymi)

Die Stadträtinnen Nadja Zivkovic und Juliane Witt (re.), unser Vorsitzender Dr. Heinrich Niemann sowie Dr. Lutz Prieß vom Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst (Foto BA M-H)


„Zeitumstellung“ im Schloss Biesdorf

Nun ist endlich – anmelde- und testfrei seit dem 4. Juni – die nächste große Ausstellung im Schloss Biesdorf zu sehen: Zeitumstellung, eine Schau mit Werken aus dem Kunstarchiv Beeskow. Die Beeskower Arbeiten stehen im Kontrast und Dialog mit heutigen Positionen. Wieviel Zeit ist an uns vorüber geflossen. Vor einem Jahr, wir erinnern uns, sollte hier eine große Ausstellung „Menschenbild – Menschenbilder“ mit Porträts des Künstlers Otto Nagel, dem Berliner Ehrenbürger aus Biesdorf, gezeigt werden. Die angekündigte Ausstellung wurde kurzfristig abgesagt, nicht wegen Corona, sondern weil nach Einschätzung des bezirklichen Baubereichs die von Leihgebern für kostbare Bilder verlangten Klimawerte in den Galerieräumen mit portablen Geräten nicht realisierbar waren. Inzwischen liegt ein vom Bezirksamt akzeptierter Vorschlag für den Einbau einer Klimaanlage vor, dessen Finanzierung (auch mit Fördermitteln) aber noch zu sichern ist. Frau Scheel als künstlerische Leiterin des Schlosses bekräftigte, dass die Nagelausstellung dann unbedingt kommen wird. Unser Verein wird eine möglichst baldige Umsetzung dieses dringenden Projekts unterstützen.

Andreas Wächter, Held der Arbeit. 1984

Kuratorin der aktuellen Ausstellung „Zeitumstellung“ ist Elke Neumann. Sie ist 42 Jahre alt, stammt aus der Prignitz und hat an der TU Berlin Kunstgeschichte, Kunstkritik und Kunsterhaltung studiert. Danach absolvierte sie ein zweijähriges künstlerisches Volontariat an der Kunsthalle Schirn in Frankfurt (Main). Seitdem ist sie als freie Kuratorin tätig. Ihre letzte Ausstellung in der Kunsthalle Rostock „Palast der Republik. Utopie, Inspiration, Politikum“ wurde ausgezeichnet als „Ausstellung des Jahres 2019″. Die deutsche Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbandes AICA vergab die Auszeichnung mit folgender Begründung: „Die Schau berichtet leicht verständlich und wissenschaftlich sachlich über die Geschichte und künstlerische Rezeption des Gebäudes. Die Berliner Kunsthistorikerin Elke Neumann hat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Auseinandersetzungen um das kulturelle Erbe der DDR geleistet. Die Ausstellung ließ politische und ideengeschichtliche Strömungen des Streits um das Haus erkennen.“ Wir erwähnen diese Fakten ausführlich, weil auch die Fachkompetenz und das Engagement in dieser Biesdorfer Expostion klar zu erkennen sind.

Elke Neumann hat die Ausstellungsräume jeweils einem Thema zugeordnet. So verschwimmen die Bilder nicht, wie bisher öfter gesehen, sondern bleiben Teil einer Überschrift. Sie heißen so:

  1. Die Ostdeutschen
  2. Bedeutungsträger
  3. Völkerfreundschaft
  4. Kinder
  5. Wohnungsbau I
  6. Wohnungsbau II
  7. Naherholung
  8. Privat

Lassen wir uns durch die Räume treiben und Erinnerungen wogen.

Der Raum Die Ostdeutschen ist dominiert von Porträts. Ein Genre, das man aus der zeitgenössischen Kunst kaum noch kennt. Da sitzen oder stehen lauter Menschen, die einen Namen haben und aus der Anonymität einer großen Arbeitsgesellschaft heraus gehoben und Subjekt werden. Ein Bergarbeiter, eine Bauarbeiterin, ein Student, eine junge Frau mit roten Haaren. Man betrachtet die Personen, als kämen sie aus einer Zeit weit vor uns. Dabei gibt es sie immer. Aus der Arbeiterklasse von einst ist nun unsichtbare Seite des Kapitalverhältnisses geworden. Elke Neumann benennt ein weiteres Problem: diese Welt wird aus der Sicht des westdeutschen Feuilletons nach wie vor mit „Abwertung und Argwohn“ betrachtet. Interessant in diesem Raum, aber leider unkommentiert: zwei Bildschirme, die Erinnerungsberichte ostdeutscher Erfahrungen aus dem Vereinigungsprozess senden. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit. Sie werden solche Gesichter, solche Haltungen und solche Bildhintergründe heute kaum noch finden.

Porträts ostdeutscher Arbeiterinnen und Arbeiter
Claudia Borchers, Porträt Jutta Birkholz. 1983

Die Abteilung Bedeutungsträger erstrahlt in dominantem Rot. Die dazugehörigen Bilder versetzen einen sofort zurück in jene Epoche, die den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus „gesetzmäßig“ dokumentieren sollte. Ohne Fahnen, ohne Transparente, ohne Aufmärsche gelang dieser Übergang nicht. Dennoch hüllt die Farbe Rot ein. Und sie erinnert für immer an dieses Lied:

Ich trage eine Fahne, und diese Fahne ist rot.
Es ist die Arbeiterfahne, die Vater trug durch die Not.
Die Fahne ist niemals gefallen, so oft auch der Träger fiel.
Sie weht heute über uns allen und sieht schon der Sehnsucht Ziel.

So rot wird es niemals mehr werden

Am Ende dieser Abteilung spielt eine zeitgenössische Künstlerin ikonische Szenen am Berliner Schloss und am Reichstagsgebäude vom 9. November 1918 nach: Liebknecht ruft die sozialistische Republik aus, Scheidemann die bürgerlich-demokratische Republik. Wenigstens die Lebenserinnerungen Scheidemanns liegen zur Lektüre bereit.

Die Ausrufung der Republiken

Als damaliger Zeitgenosse wird man in den Abteilungen Völkerfreundschaft und Kinder ein wenig sentimental. Über allen Erinnerungen klingt der Sound von der kleinen weißen Friedenstaube:

Kleine weiße Friedenstaube,
fliege übers Land;
allen Menschen, groß und kleinen,
bist du wohlbekannt.

Hermann Hensel, Kindercafé in der Stalinallee

Die Völkerfreundschaft dagegen kommt ganz plakativ daher. Unsere Welt war damals bunt, idyllisch und schön, aber niemals real divers. Deswegen anregend der späte Beitrag von Christoph Wetzel. Sein „Das jüngste Gericht“ von 1987 mag damals parteiisch gewirkt haben. Mehr als 30 Jahre später stimmt es nachdenklich.

Ingeborg Michaelis, Alexanderplatz im August 1951

Christoph Wetzel, Das jüngste Gericht. 1987

Dazu kommt als Kontrast der heutige Beitrag von Malte Wandel „Einheit, Arbeit, Wachsamkeit: Die DDR in Mosambik“. Das ist eine Fotoarbeit über ehemalige Vertragsarbeiter, die in ihrer Heimat als „madgermanes“ gegen die dortige Regierung um ausstehende Löhne und Rentenanteile kämpfen. Die Problematik ist vor einiger Zeit durch die Presse gegangen mit der Anmutung, die DDR habe die Vertragsarbeiter betrogen. Die Bundesregierung weist diese Vorwürfe zurück. Wandels Arbeit konzentriert sich auf die Fotodokumentation und erhielt dafür eine Auszeichnung.

Behausung in Mocambique (Foto M. Wandel)

Die Räume Wohnungsbau I und Wohnungsbau II erscheinen völlig normal, sind überhaupt nicht mehr so ideologielastig wie zu ZKR-Zeiten bestückt. Keine erdrückende „Plattenbau“-Front, kein drohender Zeigefinger. Es sind Häuserlandschaften in der Berliner Innenstadt zu sehen und natürlich die Bauplätze des Wohnungsbaus im Osten der damaligen Hauptstadt. Wir hatten dazu schon Bilder von Günter Brendel im Schloss Biesdorf gesehen; diesmal bleibt er aussen vor zugunsten Fritz Dudas, der eine Baustelle in der Lichtenberger Hans-Loch-Straße aus den 1960er Jahren zeigt.

Fritz Duda, Baustelle Hans-Loch-Straße/Volkradstraße. 1965

Ein ruhiges Bild aus den frühen Zeiten vor dem VIII. Parteitag der SED und dem dort im Jahre 1971 beschlossenen Wohnungsbauprogramm. Dazu Bilder aus dem ehemaligen Zentrum der Hauptstadt der DDR: gesehen und gemalt unweit des Fernsehturms, der Karl-Liebknecht-Straße und dem Palast der Republik. Ein Kontrast, auf den Konrad Knebel und Joachim Bayer aufmerksam machen.

Konrad Knebel, Dircksenstraße Berlin. 1971

Joachim Bayer, Große Stadtlandschaft. 1987

Ergänzt wird dieser Block von einer Installation im Oktagon: „P2/11 re:visited“ von Annett Zinsmeister. Ihr geht es um den ästhetischen Wert des seriellen Bauens, der ihr als Diplom-Ingenieurin weder unbekannt noch fremd ist. Wir hatten hier unlängst im Zusammenhang mit einem Vortrag von Wolf R. Eisentraut argumentiert.

Annett Zinsmeister, P2/11 re:visited. 2021

Dennoch sollten wir nie vergessen: 100 Jahre vor dem SED-Parteitag begann der Massenwohnungsbau in der damaligen Reichshauptstadt. Auch dieser war bereits serielles Bauen, wenn auch in Handarbeit, die Häuser waren meist identisch. Wer je im Berliner Altbau wohnte, weiß das. In den letzten Wochen hatte ich Jürgen Kuczynskis „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Band 4. 1871 – 1918“ zur Hand. Er zitiert dort Gustav Schmoller, einen Sozialwissenschaftler und Nationalökonomen, aus dem Jahre 1887: „Die heutige Gesellschaft nötigt die unteren Schichten des großstädtischen Fabrikproletariats durch die Wohnverhältnisse mit absoluter Notwendigkeit zum Zurücksinken auf ein Niveau der Barbarei und Bestialität, der Roheit und des Rowdytums… Ich möchte behaupten, die größte Gefahr für unsere Kultur droht von hier aus…“ (Kuczynski S. 214). Schmoller bezieht sich dabei sowohl auf die gebaute Enge der Karrees, die hygienischen Zustände als auch die Überbelegung der Wohnungen in Form des „Schlafburschen- und Kostgängerunwesens“.

Diesen Vorwurf kann man dem Wohnungsbau des Staatssozialismus überhaupt nicht machen, zumal er in der DDR im Vergleich mit den „Bruderstaaten“ zu den besten gehörte. Die ästhetische Anmutung der Wohnsiedlungen ist ein Argument – viele andere gehören dazu. Das Hinterhaus in Charlottenburg mag entkernt und wunderbar saniert sein – im Februar scheint dort, wie vor 150 Jahren, die Sonne maximal zwei Stunden. Die P2-Installation im Oktagon bleibt so als zeitgenössischer Kommentar wieder plakativ, auch wenn Annett Zinsmeister über einen weitaus gefächerteren Hintergrund verfügt. Die Serie P2 wurde zeitweilig sehr kompakt gebaut, so am damaligen Leninplatz in Berlin, und verstörte dadurch Menschen. Die Wirklichkeit der Großsiedlungen im Osten der Bundeshauptstadt ist inzwischen eine andere. Gleichwohl hat die Debatte um den Mietendeckel die 84% der Berlinerinnen und Berliner, die zur Miete wohnen, deutlich daran erinnert, dass Wohnen ein Grundbedürfnis des Menschen ist – wie für alle Lebewesen – und daher auch in einer bürgerlichen Gesellschaft geschützt werden muss. Da helfen ästhetische Bloßstellungen der Großsiedlung wenig. Es gibt diese seriellen Häuser in der ganzen Welt. Ich wage eine Vorausschau: in zehn Jahren gilt die dann mit weiterem Wohnraum verdichtete und um eine bessere soziale Infrastruktur erweiterte „Platte“ am Stadtrand als Erfolgsstory für lichtes und luftiges Wohnen in Zeiten des Klimawandels!

Am Ende der Ausstellung plaziert ist der Komplex Naherholung, ein Begriff, der aus dem Sprachgebrauch weitgehend verschwunden ist. Nicht jedoch die Handlungen, die damit verbunden sind. Man fährt hinaus ins Grüne, badet, sonnt sich, holt sein Picknick heraus und quasselt – oder schweigt. Unwichtig sind Parkplätze für Autos; man reiste per pedes, Rad oder Eisenbahn an. Imbissangebote gab es wenige, man brachte seine Stullen, Tee und Obst selbst mit. Die Bilder von Barbara Müller-Kageler bezeugen das.

Bilder von Barbara Müller-Kageler im Raum Naherholung

Nachdenklich stimmten mich die Bilder vom Schulsport. Schulsport besteht heute, wenn man den Medien Glauben schenkt, vorwiegend aus nicht funktionsfähigen Turnhallen, gesperrten Plätzen oder unzumutbaren Sanitäreinrichtungen. Der Leistungsgedanke beim Schulsport ist unerwünscht. In den 1960er Jahren gab es in Ost-Berlin einen Staffellauf für Schulen. Eine Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1966 erinnert uns daran: „Über 15.000 Berliner Kinder und Jugendliche hatten sich in diesem Jahr an den Vorausscheiden des BZA-Laufes beteiligt, dessen Finale am Sonntag zum zehnten Male ausgetragen wurde und 4.400 Teilnehmer in 150 Mannschaften am Start sah. Vier neue Streckenrekorde zeugten dabei vom gewachsenen Leistungsstand im Schulsport der Hauptstadt …“
An diese Zeiten erinnern vier Sportgrafiken. Auf einer pfeift ein engagierter Übungsleiter seine Sportler zum Start ins Schwimmbecken, sichtbar Leistung fordernd (Künstler: Harald Metzkes). Der Betrachter ist verwundert: diese Haltung war einmal völlig normal. Sie wird nicht mehr nachgefragt, eher abgelehnt. Kinder können immer seltener schwimmen, nicht schnell laufen, nicht auf Bäume klettern. Schwimmhallen werden endlos saniert, Freibäder auf die jahrzehntelange Bank geschoben…


Sportgrafiken daselbst

Am Ende Privates. Hier, im Vestibül des Heino-Schmieden-Saales, kommt es dann doch zur Provokation. Unverkennbar alte Teile einer Schrankwand sind zu einer Installation verschraubt. Nach außen gekehrt sind nicht die Fronten sondern die rückwändigen Hartfaserplatten. Die Künstlerin heißt Inken Reinert, sie stammt aus Jena. In einer früheren Besprechung zu diesem Werk heißt es: „Die Pankower Künstlerin zeigt eine Installation aus Elementen von in der DDR gefertigten Schrankwänden, die dort in fast jedem Haushalt zu finden waren.“ Ja, so war es. Wir hatten alle die gleiche Möblierung, die gleichen Klamotten, den gleichen Namen – und sahen auch alle gleich aus. Wer sich 30 Jahre nach dem Beitritt an einer Schrankwand Carat 2 abarbeitet, um die muss einem bange sein. Dankbar ist man dem Werk und seinen Rückwänden dennoch: es sind noch die Produktzettel erhalten. So wird dieses Werk produktiv.

Kollege Holsäß ließ das Aufbaumöbel mit Gütezeichen 1 passieren

Versuchen wir eine Zusammenschau. Die gegenwärtigen Positionen, so mein Eindruck, haben nicht die Stärke, die künstlerische Kraft, sich gegen die Originale durchzusetzen. Das gilt auch für alle vorausgegangenen Ausstellungen. Die Künstler der analogen Zeit studierten ihren Gegenstand, um ihn dann zu einem Kunstwerk zu formen. Die Künstler*innen der digitalen, jetzt auch gendergerechten Zeit, erarbeiten sich selten einen eigenen Gegenstand, ziehen es vor, zu kommentieren oder sich zu distanzieren. Bei Vernissagen erklären sie ihre Arbeiten stundenlang, die Künstler der analogen Zeit, wie einmal Ursula Strozynski, sind ganz still: „Sehen Sie selbst!“

Dieses Missverhältnis ist zu bedauern. Die Beeskower Kunstwerke sollten, so der Plan, nicht museal ausgestellt werden, sondern immer im Dialog, im Vergleich, in einer Reflexion zur Jetztzeit gezeigt werden. Dieser Dialog kommt auch in dieser Ausstellung nicht auf Augenhöhe zu Stande. Die Kuratorin plagt uns in Zeitumstellung, abgesehen von Reinerts Installation, nicht mit „Wolken“, den aufgepumpten LKW-Reifen, oder einem „Mückenhaus“, wie zu ZKR-Zeiten gesehen. Ihre Dialogangebote zwingen aber keinesfalls zur Infragestellung oder gar Ablehnung der Aussagen der Beeskower Werke. Das ist nun zugleich die Stärke der kuratorischen Arbeit: wir sehen auch Werke, die zwar in der DDR entstanden sind, sich aber nicht auf eine ausschließlich staatssozialistische Sicht beschränken. Sie zeigen Menschen, die leben, arbeiten, froh sind; oder nachdenklich. Sie zeigen Landschaften, die karg und nicht immer blühend waren. Sie zeigen Massenzusammenkünfte, die inszeniert und überzeichnet sind. Die Bildwerke zeigen aber auch, und das ist mir dieses Mal besonders deutlich geworden, dass das Wesen der Kunst als das Hervorbringen des Außerplanmäßigen in Relation zu einem System verstanden werden kann, wie es Marlene Heidel in ihrem Buch „Bilder außer Plan“ formuliert hatte. Die Bilder regen nicht nur an, sich zu erinnern, nein, sie regen an, inne zu halten, zu vergleichen und in Frage zu stellen. Die Betrachtung des Porträts „Jutta Birkholz“ drängt mich zu der Frage, warum der arbeitende Mensch in unserer Gesellschaft so wenig Beachtung findet, während jeden Abend kurz vor der Tagesschau in allem Glanz die neuesten Börsennachrichten zelebriert werden. Keine heutige und keine künftige Gesellschaft wird ohne arbeitende Menschen auskommen. Es hat nicht immer Geld gegeben und es werden Zeiten kommen, die ohne Geld existieren. Der Staatssozialismus, so roh er war, hat tiefere Spuren gegraben, als wir selbst denken. Die Bilder, vor denen wir stehen, beweisen es. Sie verdienen es, in einen ernsteren Zusammenhang gestellt gestellt.

Aus Beeskow ist in diesem Sinne, ich formuliere einen alten DDR-Witz nach, noch vielmehr heraus zu holen. Die Kuratorin Elke Neumann hat für die Neuausrichtung des Kunstarchivs Beeskow eine Konzeption entwickelt, deren Ziel es ist, den Bestand noch stärker für reflektierte Erinnerungen und neue Perspektiven zu öffnen. Dazu werden bald die geplanten Veranstaltungen Gelegenheit geben. Und wer hier wem die Zeit umgestellt hat, bleibt offen…

Lothar Rericha, Die Rothaarige. 1983-86

Wir wünschen Ihnen anregende Stunden.

P.S. Hinter den fettkursiv gesetzten Wörtern verbergen sich Links. Sollten Sie beim Lesen einen schlecht formatierten Text vorfinden, navigieren Sie auf dieser Seite auf einen anderen Artikel und gehen dann auf den aktuellen zurück.

(Axel Matthies)


Neues zur Fontäne im Schlossteich Biesdorf

Zuletzt hatten wir im September 2020 über die notwendige Reparatur der Fontäne im Schlossteich berichtet. Damals stand die Aussage, dass die notwendigen Arbeiten 300.000 Euro kosten werden und die Fontäne im Jahr 2021 wieder sprudelt.

Diese Ankündigung ist nun noch einmal präzisiert worden. Auf der letzten, digital durchgeführten, Sitzung der BVV Marzahn-Hellersdorf am 21. Januar gab Stadträtin Nadja Zivkovic die neuesten Fakten bekannt. Danach erhöhen sich die einzusetzenden Mittel auf 350.000 Euro, die Fontäne wird erst im Jahre 2022 wieder rauschen. Der zuständige Fachbereichsleiter Grünflächen, Herr Lemmer, gab Vertretern unseres Vereins in einer Sprechstunde am 19. November 2020 Einsicht in den weiteren Verlauf, wir möchten Sie darüber aus erster Hand informieren.

Teich und Fontäne sollen völlig erneuert wiederhergestellt werden. Der Teichboden wird abgetragen und die Teichflora neu aufgebaut. Die Umzäunung wird neu gestaltet. Davor gibt es Probleme zu lösen, die nicht nur auf die Wiederherstellung der Fontäne gerichtet sind. Die größte historische Grabung in Berlin fand bekanntlich 1999 bis 2014 bauvorbereitend in Biesdorf statt – auf gut 22 Hektar Fläche konnten 10.000 Jahre Siedlungsgeschichte an der Wuhle dokumentiert werden. Die Ergebnisse wurden im Neuen Museum präsentiert. Als Höhepunkt bezeichneten die Berliner Staatlichen Museen diese Entdeckung:

Als spektakulärsten Fund aus Biesdorf kann man eine steinzeitliche Hirschmaske bezeichnen, die vermutlich einem Schamanen oder einer Schamanin für Rituale diente und in die Zeit um 9000 v. Chr. datiert. Damit zählt die Maske zu den ältesten Funden Berlins. Sie ist aus dem Geweih eines Rothirsches geschnitzt. Vergleichbare Funde sind weltweit nur von sehr wenigen Orten bekannt.

Hirschmaske (Foto: SMB, Cl. Klein). Sie wurde, das sei korrekt angemerkt, schon 1953 bei Arbeiten in der Biesdorfer Heesestraße gefunden.

Diese Erkundungen sollen nun unter dem Schlossteich fortgesetzt werden. Da die bisherigen Grabungen ausschließlich in Biesdorf Süd, geologisch im Spree-Urstromtal, stattfanden, soll nun die Chance genutzt werden, auch auf der Barnim-Hochebene zu graben. Möglicherweise ergeben sich hier neue, andere Funde. Für die Erneuerungsarbeiten wird allerdings schwere Technik eingesetzt, deren Transport eine eigene Baustraße von der Nordpromenade bis zum Teich erfordert. Wie zu hören ist, hat die Untere Denkmalbehörde hierzu noch keine Zustimmung erteilt.

Da die angekündigten Arbeiten nicht bis zum Beginn der Laichperiode 2021 zu schaffen sein werden, starten sie im Interesse des Artenschutzes frühestens ab September 2021. Mit dem Abschluss der Arbeiten kann dann ab dem 2. Quartal 2022 gerechnet werden. Das ist für die Freunde des Schlossparkes keine frohe Perspektive, dennoch eine, die mit Verständnis rechnen kann.

Darüber hinaus informierte Herr Lemmer über Arbeiten am Wegesystem des Schlossparkes, die in diesem Jahr beginnen. Der Weg unmittelbar an der Bahn entlang vom Bahnhof bis zum Parkeingang soll demnächst erneuert werden; ebenso die Wegeverbindung im Park von der Nordpromenade zum Blumberger Damm. Auf Nachfrage erklärte Herr Lemmer, dass die Albert-Brodersen-Allee noch nicht in der Planung ist.

Das lange angekündigte Wegeleitsystem ist unterdessen auch im Flusse. Wir konnten den Entwurf betrachten. Die Ausschilderungen vom Bahnhof bis in den Park hinein werden weiß auf anthratzitfarbenem Grund gehalten sein und das charakteristische Schloss-Rosa mitführen. Vertreter unseres Vereins werden zu den Standorten des Wegeleitsystems ihre Sachkenntnis einbringen.

Abschließend informierte Herr Lemmer über ein neues Projekt der Senatsumweltverwaltung. Ab sofort sind die Stadtnatur-Rangerin Caroline Thiem und der Stadtnatur-Ranger Toni Becker im Bezirk unterwegs. Sie sind unter anderem in den Landschaftsschutzgebieten Hönower Weiherkette und Kaulsdorfer Seen im Einsatz, um Bürgerinnen und Bürger im persönlichen Gespräch sowie im Rahmen von Führungen über Natur- und Artenschutz zu informieren und zwischen Mensch und Natur zu vermitteln. Mit diesem Auftrag werden sie auch im Schlosspark Biesdorf anzutreffen sein.

Wer nun nicht auf das Rauschen der Fontäne verzichten will…

(Axel Matthies)



Wolf R. Eisentraut und seine Bauten in Marzahn

Der Vortrag am 21. Oktober 2020 gemeinsam mit der Volkshochschule Marzahn-Hellersdorf im Schloss Biesdorf war einem Dauerbrenner der Diskussionen zur DDR-Geschichte gewidmet:

„Architektur zwischen Individualität und Typenbau. Gewolltes, Gelungenes, Gescheitertes“.

Referent war kein Geringerer als Prof. Wolf R. Eisentraut, einer der wichtigsten Architekten in der damaligen Hauptstadt und des gesamten Landes. Eisentraut, der jetzt 77 Jahre alt ist, zog damit auch Bilanz seines Lebens. Er hat inzwischen genauso lange in der DDR gebaut wie im vereinigten Deutschland. Wer, wenn nicht er, kann sich ein Urteil erlauben.

Prof. Eisentraut konzentrierte sich in seinem bildgestützten Vortrag auf seine Arbeiten in Berlin-Marzahn. Im damaligen VEB Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau (IHB) entwickelte und baute er die Häuser als verantwortlicher Architekt in den Jahren zwischen 1973 und 1988.

Prof. Wolf R. Eisentraut im Heino-Schmieden-Saal

Der Vortragende eröffnete seine Erinnerungen mit dem Jahr 1955: in diesem Jahr sei in der DDR mit dem industrialisierten Wohnungsbau begonnen worden. Drei einfache Haustypen – flach, mittel, hoch – seien dafür konstituiert worden, die in ebenfalls typisierten Baufeldern angeordnet wurden. Hinzu seien konische Elemente gekommen. Eisentraut bekannte sich „mitschuldig“ an der Wohnungsbauserie (WBS) 70, Typ Neubrandenburg. Dieser Typ, mit kleinen Fenstern im Treppenhaus, sei in der DDR millionenfach eingesetzt worden.

Hier dargestellt als QP Berlin

Als Anekdote steuerte er hier bei, dass von den zweiteiligen Fenstern in der Regel nur der kleine Flügel geöffnet worden sei; unter dem großen Flügel habe aus platztechnischen Gründen in der jeweiligen Wohnung immer das Ehebett gestanden.

Wolf R. Eisentraut erläuterte die Grundprinzipien des industriellen Bauens. Wesentlich sei dabei gewesen, dass alle Häuser – sowohl die typisierten Wohnbauten als auch die Geselschaftsbauten – aus den vorhandenen Elementen, wie sie in den Vorfertigungsstätten (Plattenwerken) massenhaft produziert wurden, zu konstruieren gewesen wären. Ausnahmen gab es nur wenige. Für Architekten war das von vornherein eine gewaltige Einschränkung, aber auch eine Herausforderung ohnegleichen. Wie er sie lösen konnte, bewies er an einem Schulbau für körperbehinderte Schüler in der Lichtenberger Paul-Junius-Straße.

Schule in Lichtenberg. Bei ihrer aufwändigen Sanierung, die unlängst erfolgreich abgeschlossen wurde, sprachen Laien von einem „verschachtelten“ Bau. Bauexperten hingegen lobten die architektonische Ausstrahlung.

Sodann wandte sich Prof. Eisentraut seinen Gesellschaftsbauten in Marzahn zu. Er erläuterte seinen Entwurf für das Hauptzentrum, das zwischen Bahnhof und Freizeitforum gelegen ist.

Studie B für das Hauptzentrum (Abb. Eisentraut)

Vorab soll aber hier authentisch erinnert werden, wie Marzahn gesellschaftspolitisch geplant war. Im Jahre 1971 hatte der VIII. Parteitag der SED die „Politik der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ beschlossen, in deren Zentrum die Verbesserung der Wohnbedingungen der Werktätigen zur vordringlichen sozialen Aufgabe erklärt wurde. Der IX. Parteitag fünf Jahre später – er fand im Mai 1976 im neu errichteten Palast der Republik statt – stellte die „geschichtliche Aufgabe, die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 zu lösen“. Dabei wurde auf die Hauptstadt Berlin besonderes Augenmerk gelegt. Im Zentrum stand Marzahn.

Die frühen Jahre – Blick über den Springpfuhl auf die Häuser des Murtzaner Rings. Das Gebiet wurde ab 1977 tiefbautechnisch erschlossen, die ersten Häuser wurden bereits im selben Jahr übergeben. (Foto: Sibylle Bergemann 1980)


Es ging um die Versorgung der Berliner mit Wohnraum, aber auch um die Versorgung Zuziehender, die im wachsenden Staatsapparat sowie in neu errichteten bzw. stark erweiterten Industrieanlagen in Marzahn und Hohenschönhausen arbeiteten. Wir erinnern dabei an Betriebe wie: VEB Kombinat Kraftwerks- und Anlagenbau, VEB Kombinat Elektroprojekt und Anlagenbau Berlin, VEB Energiekombinat Berlin, VEB Berlin Kosmetik sowie die großen Baukombinate Wohnungsbaukombinat, Tiefbaukombinat und Ingenieurhochbau – fast alle versanken im Orkus der Treuhandanstalt. An dieser Stelle werfen wir einen Blick in die Zeitung vor 45 Jahren.

Berliner Zeitung vom 27./28. März 1976

Die „Berliner Zeitung“ berichtete über eine SED-Bezirksdelegiertenkonferenz Berlin, die im Frühjahr 1976 schier unglaubliche Ankündigungen machte – wir zitieren aus der Rede des damaligen 1. Sekretärs K. Naumann: „Durch Neubau und Modernisierung von 300.000 bis 330.000 Wohnungen in den nächsten 15 Jahren ist die Zahl der vorhandenen Wohnungen der Zahl der Haushalte anzunähern und bis 1990 das Wohnungsproblem so wie vorgesehen zu lösen… In Übereinstimmung mit den wachsenden Bedürfnissen der Werktätigen und den realen materiellen Möglichkeiten sind bis 1990 alle Wohnungen in einen guten baulichen Zustand zu versetzen. Sie sind mit Innentoilette sowie Bad oder Dusche und in der Mehrzahl mit modernen Heizungssystemen auszustatten.“ Diese Ankündigungen waren so traumhaft, für viele unglaublich, dass sie es sogar in einen Gassenhauer von Reinhard Lakomy schafften: „Bis 1990, so sagt die Partei, sind wir alle wohnraumsorgenfrei“.

Reinhard Lakomy und seine LP mit dem Titel „Das Haus, wo ich wohne“

Um so größer war der Druck für jene, die diese Pläne umsetzen mussten. Prof. Eisentraut stellte sich als verantwortlicher Architekt im IHB dieser Aufgabe. Seine Studien zeigen den architektonischen Anspruch. Im Vergleich zu heute gab es Wettbewerbe für höchstens drei Kollektive. Dabei stand immer das Primat des Pragmatischen und der niedrigen Kosten im Vordergrund. Wie oben angekündigt konzentrierte sich Prof. Eisentraut in seinen Ausführungen auf das Hauptzentrum Marzahns in der Streckung vom Bahnhof bis zum Freizeitforum Marzahn. An dieser Stelle einige Fotos aus dem historischen Fundus von Prof. Eisentraut.


Ursprüngliche Bebauung, Blick vom Bahnhof auf Post (li.) und Warenhaus (Abb. Eisentraut)


Dahinter Dienstleistungskomplex, dass. Innenansicht (Abb. Eisentraut)


Blick in ein Café in der Marzahner Promenade (Abb. Eisentraut)



Auf dieser Fläche fokussierte sich das städtische Leben. Im Gegensatz zum benachbarten Stadtteil Hellersdorf dominieren in Marzahn Geschossbauten mit 11 Etagen und mehr. Neben den zentralen singulären Bauten wie Warenhaus (mit Oberlicht!), Post und Dienstleistungskomplex sollten vor allem die sogenannten Funktionsunterlagerungen (also Geschäfte in den ursprünglich reinen Wohnbauten) für Attraktion sorgen. Zusätzlich waren dieser zentralen Achse zahlreiche Gaststätten unterschiedlichen Typs zugeordnet. Unter den Bedingungen des Handels in der DDR funktionierte das System vorzüglich; abgesehen davon, dass in den Geschäften immer etwas fehlte.

Wird heute kaum erinnert – Club Jasmin mit Glastanzfläche (Abb. Eisentraut)



Zur Erinnerung: Galerie M (Abb. Eisentraut)

Zudem erinnerte Wolf Eisentraut an die Gestaltung der Nebenzentren Helene-Weigel-Platz und Ringkolonnaden. Am Beispiel des Rathauses Marzahn zeigte Eisentraut beispielhaft die Improvisationen, die immer nötig waren. Um die vorgehängten Platten erlebbar zu machen, kooperierte er mit dem Klinkerwerk in Großräschen. Dieses Werk in der südlichen Lausitz mit langer Industriekulturtradition lieferte ausrangierte Ziegel, mit denen die Außenhaut des Rathauses gestaltet wurde. Eisentraut demonstrierte das mit den sichtbar unterschiedlich farbigen Ziegeln im Eingangsbereich.

Rathaus Marzahn. Auf der linken Seite die unterschiedlich gefärbten Ziegel, die als Ausschuss galten und so vom Architekten für eigene Zwecke genutzt werden konnten. (Abb. Eisentraut)

Die Ringkolonnaden, damals ergänzende Versorgungseinrichtung im Norden Marzahns und von preisgekrönter Gestaltung, wurden inzwischen abgerissen; das neu gebaute Plaza Marzahn übernahm deren Funktion. Die Galerie M von 1990, ein lichtdurchfluteter Kulturbau und Magnet der kunstinteressierten Anwohner, ließ die landeseigene degewo 2014 geräuschlos wegreißen. Begründung: in der technischen Unterhaltung zu kostspielig.

So neigte Prof. Eisentraut am Ende seines Vortrages zu Bitternis und zeigte ein Bild vom zerstörten Karthago. Ein nicht geringer Teil seines Werkes in Marzahn, vor allem sinnstiftende Gesellschaftsbauten, ist nach weniger als 30 Jahren abgetragen. Wer einen Blick in sein Werkverzeichnis wirft, stellt den Verlust schnell fest. Es sind zudem die damals beliebten und individuell ausgestalteten Clubgaststätten, die den unsubventionierten Betrieb nicht überlebten – sie wurden schnell abgerissen. Nun steht der Abriss des einzigen neu gebauten Kinos „Sojus“ am Helene-Weigel-Platz bevor. Dennoch hält er den Prozess der Bewertung des Wohnungs- und Gesellschaftsbaus in der DDR nicht für abgeschlossen, er bleibe in Bewegung. Selbst wenn man die gänzlich anderen Ansprüche der Gegenwart an die Präsentation von Waren berücksichtigt – der erste Satz in Marx‘ Kapital lautet: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform“ – bleibt seine Beurteilung der nachfolgenden Bebauung nicht unkritisch. So habe Eisentraut im Streit mit dem Investor ECE hinsichtlich der architektonischen Ausstrahlung auf das ursprüngliche Ensemble darauf hingewiesen, dass die Südflanke des Einkaufszentrums Eastgate sich gegenüber der Promenade als geschlossene Kulisse präsentiert und das Flanierinteresse gänzlich verhindere. Zudem hätte das Einkaufscenter der übrigen Marzahner Promenade das Wasser abgegraben, die Kaufkraft für weitere Geschäfte mit sonstigen Angeboten funktioniere nicht. Der fremde Besucher bemerke die Leere, aber nicht die Ursachen. So greift ein einzelner Bau anmaßend in ein komplettes Ensemble ein.

Die abweisende Seite des Einkaufscenters Eastgate (Abb. Eisentraut)

In der abschließenden kurzen Diskussionsrunde dominierten zwei Themen: zum einen die Ursachen und Beweggründe der neuen Besitzer für den Abriss der Häuser, zum anderen der Blick auf den komplexen Wohnungsbau in seiner Gesamtheit und das einzelne Haus als Dominante und Sinnstiftung. Prof. Eisentraut ist sich darüber im Klaren, dass der komplexe Wohnungsbau in seiner Einheit von Wohnungs- und Gesellschaftsbau, von verkehrlicher Erschließung und täglicher Versorgung ein besonderer Wert ist. Er wollte mit seiner Arbeit, mit dem einzelnen Haus, Lebensgefühl und Heimat schaffen, er wollte mit daran wirken, dass sich Städte entwickeln und mit ihren Bürgern wachsen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Prof. Eisentraut in einer Veranstaltung mit dem Heimatverein Marzahn-Hellersdorf folgende Formulierung getroffen:

„Die industrielle Bauweise ist keine abgeschlossene Epoche, in einer industrialisierten Gesellschaft ist sie vielmehr ein ganz normaler Teil; es kommt nur darauf an, die industrielle Bauweise so zu lenken, dass sie für die wirklichen Bedürnisse eingerichtet wird, dass sie nicht als Selbstzweck die Lösung diktiert, sondern dass in erster Linie die Frage steht: Welche Stadtentwicklung brauchen wir, was brauchen wir für die Menschen, die da wohnen? Danach haben sich die technischen Möglichkeiten zu richten, und die Architekten natürlich auch.“

Wer heute die Wohnkomplexe in Marzahn durchstreift, trifft auf funktionierende und vermietete Häuser, auf gepflegte und respektierte Freiflächen, auf Menschen, die sich wohlfühlen und Rücksicht nehmen. Die Häuser wurden technisch nachgerüstet und das Wohnumfeld aufgewertet. Der Stadtteil wird jetzt spürbar verdichtet, überall drehen sich Kräne, die Nachfrage nach Wohnraum ist ungebrochen. Freilich ist es nötig, die Hälfte der Neuvermietungen zu subventionieren. Marzahn ist, entgegen der Annahme vieler Unwissender, ein beliebter Wohnort für arbeiterlich geprägte Menschen, darunter verschiedene Nationalitäten vor allem aus Osteuropa. Die weiträumige Kulisse hat sich in pandemischen Zeiten durch unterdurchschnittliche Infizienz bewährt. Was Marzahn dennoch braucht, sind sinnstiftende Hauptgebäude, die seinen Bewohnern gerecht werden und dem Stadtteil als Kernmarke dienen. Da könnte Eisentraut Rat geben.

Die Neubaukomplexe in der DDR und den anderen Ländern des Staats-sozialismus, das sei abschließend bemerkt, unterliegen nicht den Kriterien der bürgerlichen Architekturkritik. Es ging hier niemals um das einzelne Haus und seinen Tauschwert, es ging immer um das Häuser-Ensemble in seiner Gebrauchs-wertigkeit. Hein Köster, der langjährige Redakteur der Zeitschrift „form + zweck“, auf deren Seiten über einige Jahre eine ernsthafte Debatte zur Formgestaltung im Sozialismus stattfand, formulierte diese Erwartung so: „Der Anspruch der Einfachheit ist perspektivisch, denn sein Pathos ist die soziale Egalité.“ Und Lothar Kühne, ein weiterer wichtiger Akteur dieser Debatte differenzierte: „Für die Faszination der Einfachheit des Praktischen ist noch kein dauerhaftes Organ gebildet.“ Dies wäre dann allerdings ein neuer Vortrag. Ein anregender Abend mit Wolf R. Eisentraut ging zu Ende.

(Axel Matthies)


Otto Nagel und das Erbe der Familie

Am Ende des langen Otto-Nagel-Jahres 2019/2020, das leider von der Corona-Pandemie dominiert wurde, kann die „Initiativgruppe Otto Nagel 125“ auf eine Reihe wichtiger Veranstaltungen verweisen, die wir in Kürze hier zusammenfassen werden.

Heute wollen wir bereits ein Projekt vorstellen, das eine Enkeltochter Otto Nagels, Salka Schallenberg, auf den Weg gebracht hat. Es geht um den Verbleib der Werke Otto Nagels, die sich in seinem persönlichen Besitz befanden als er 1967 starb und die nun auf die Erben übergingen.

In ihrem Beitrag auf der Festveranstaltung am Tag des 125. Geburtstages Otto Nagels am 27. September 2019 im Schloss Biesdorf hatte Frau Schallenberg angekündigt, sich eingehend mit dem Verbleib der Bilder im privaten Besitz des Künstlers zu befassen. Erste Ergebnisse hat sie nun in einem Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks mdr für die Reihe „exakt“ vorgestellt.

Ausgangspunkt aller Querelen ist das Otto-Nagel-Haus, das am 12. Juli 1973, aufwändig und schön saniert, in Anwesenheit Erich Honeckers als Stätte für einen „bedeutenden Künstler der Arbeiterklasse“, wie es auf Seite 1 des „Neuen Deutschland“ am 13. Juli hieß, im historischen Berliner Fischerkiez eröffnet wurde. Geleitet werde es vom Ehepaar Schallenberg, Salkas Eltern.

Neues Deutschland vom 13. Juli 1973

Zwischen der Erbin Walli Nagel und dem Magistrat von Berlin wurde dafür ein Dauerleihvertrag abgeschlossen, den der Beitrag im Ausschnitt zeigt.

§ 2 des Dauerleihvertrages (Screenshot: mdr)

Im Verlauf der folgenden Jahre kam es zu Streitereien zwischen den Vertragsseiten in Hinsicht auf die Gültigkeit der Dauerleihverträge. Beklagt wurde weiterhin die Absicherung der Arbeit im Nagel-Haus durch das eingesetzte Personal. Da die Vertragsseiten keine Einigung erzielten, zog Walli Nagel die betroffenen Werke zurück, so sagt es Salka Schallenberg im Film. Ihre Eltern wurden von der Leitung des Nagel-Hauses im Jahre 1978 entbunden. Nun begann ein politischer Kampf um das Erbe. Dabei handelt es sich um etwa 300 Bildwerke. Frau Schallenberg geht davon aus, dass verschiedene politische Kräfte in der DDR daran interessiert waren, das Werk Nagels – als von „nationaler Bedeutung“ gekennzeichnet – in einer Hand zu behalten. Es gab seitens des Magistrats ein „unmoralisches Angebot“ in sechsstelliger Höhe, so heißt es im Film, das die Familie nicht annehmen wollte. Daraufhin schickte die zuständige Finanzbehörde einen Erbschaftssteuerbescheid, der das Erbe Otto Nagels nicht mehr auf eine sechsstellige sondern auf eine Millionensumme taxierte. Die Familie, Walli Nagel war 1983 verstorben, musste passen und überliess das Erbe dem Staat DDR. Das war 1985.

Erlass der Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer, Schreiben vom 16.9.1985 (Screenshot: mdr)

Nach mehreren Rechtsverfahren im vereinigten Deutschland steht seit dem Frühjahr 2005 fest, dass der Besitz von Nagel-Bildern in den Händen vorwiegend Berliner staatlicher Museen, vor allem der Nationalgalerie, und der Akademie der Künste, rechtens ist. So hatte es das Oberverwaltungsgericht Neuruppin damals entschieden.

Frau Schallenberg zweifelt das auch nicht an. Sie fragt jedoch generell, auf welchem Wege und mit welchen Herkunftszeugnissen die Kunstwerke dorthin gelangt sind. Dafür steht ein wichtiger Zeitzeuge, der damalige und langjährige Staatssekretär im Ministerium für Kultur der DDR Kurt Löffler, zur Verfügung.

Kurt Löffler (Screenshot: mdr)

Der hochbetagte Löffler räumt ein, dass seinerzeit unterschiedliche Interessen aufeinander trafen, die „verhinderten, dass es eine korrekte, von allen Seiten getragene Entscheidung gab“. Im Zentrum stand die Erhebung der Erbschaftssteuer. Erbmassen über 100.000 Mark wurden vom Staat für Angehörige ersten Grades mit 50% bemessen. Die Familie sollte für die gemachte Erbschaft eine Erbschaftssteuer von 1,6 Millionen Mark leisten. Dem hätte nach damaligem Recht eine Erbsumme von 3,2 Millionen Mark zugrunde gelegen. Automatisch stellt sich die Frage, wie eine solch hohe Erbsumme errechnet werden konnte. Kunst in der DDR war bezahlbar, Unwägbarkeiten eines Kunstmarktes gab es nicht.

Wie wir heute wissen, war in solche Fälle in der Regel das Ministerium für Staatssicherheit involviert. Ab Jahresbeginn 1974 besaß die gerade gegründete Kunst und Antiqutäten GmbH (KuA) als Teil des KoKo-Imperiums das Monopol für Export und Import von Antiquitäten, Kunst und kulturellen Gebrauchtwaren. Um solche Gegenstände für den Export nutzbar zu machen, sorgte das Unternehmen dafür, dass Museen zum Aussondern bestimmter Bestände unter Druck gesetzt wurden und dass Sammler und Antiquitätenhändler gezielt kriminalisiert, verhaftet, verurteilt und enteignet wurden. Um die Sammler und Antiquitätenhändler zu kriminalisieren, schickte man ihnen einen überhöhten Einkommensteuerbescheid mit der Begründung, dass sie zu Hause gewerblich mit Kunstgegenständen handelten. Da sie diese Steuerschulden in der Regel nicht begleichen konnten, wurden ihre Sammlungen gepfändet. Das, was damals in der DDR als kalte Enteignung erschien, ist in der bürgerlichen Gesellschaft übrigens üblicher Alltag: auf die Eröffnung eines Testamentes folgt die Übersendung des Erbschaftssteuerbescheids.

Kurt Löffler betont, dass er mit Walli Nagel befreundet gewesen sei, er ihr aber in der Angelegenheit nicht unmittelbar helfen konnte. Obwohl er die Bücher offensichtlich für geschlossen hält, sagt er am Ende des Films doch diese Sätze: „Ich finde im Moment noch keinen Weg, wie ich diese falsche Haltung korrigieren kann. Wenn es einen gäbe, gemeinsam mit den Erben, würde ich ihn gehen.“ Er wäre an der Seite der Erben, wenn ihnen der Teil des Erbes zurück gegeben würde, der ihnen rechtmäßig zustehe. Das ist der Punkt, an dem Frau Schallenberg nun weiter forschen will.

Der Film der erfahrenen Fernsehjournalistin Romy Gehrke ist sauber recherchiert. Er zeigt dem interessierten Zuschauer die wichtigen Dokumente in dieser Causa. Den Beteiligten tritt die Autorin unvoreingenommen gegenüber. So sagt die Berliner Nationalgalerie Salka Schallenberg Unterstützung bei ihren weiteren Recherchen zu.

Salka Schallenberg in der Nationalgalerie (Foto: mdr)

Vor dieser Kulisse stellt sich wiederum die Frage nach der abgesagten Nagel-Ausstellung „Menschenbilder – Menschenbild“ im Schloss Biesdorf. Sie sollte vom Mai bis Ende September 2020 gezeigt werden. Der Bezirk, der die Ausstellung vollmundig anläßlich des 125. Geburtstages Otto Nagels angekündigt hatte, sagte sie kurz vor dem Eröffnungstermin kleinlaut wieder ab – aus technischen Gründen. Die Bilder bleiben im Depot. Wem nützen die Bilder Nagels dort? Es bleibt zu hoffen, dass die Erforschung der Provenienz diese Bilder befreit, sie zurück trägt in die Öffentlichkeit, wo sie vermisst werden. Es ist verrückt: für das Bild vom „Babylon Berlin“ verzückt sich das Feuilleton, für die Ausgesteuerten vom Wedding, für Arbeiter, Witwen und Kutscher am Existenzrand regt sich keine Hand. Berlin, einst die Arbeiterstadt Deutschlands, Nagel ihr Maler, scheint sich ihrer zu schämen.

So stellt man einmal mehr enttäuscht, ja verbittert fest, dass für Otto Nagel, den Ehrenbürger, in seiner Vaterstadt Berlin kein Platz ist. Nicht im Wedding, wo seine ursprüngliche Heimat war, nicht in Biesdorf, wo er die lichten, wenngleich auf andere Art schwierigen Jahre seines Lebens verbrachte. Man beginnt um so deutlicher zu spüren, wie hart er kämpfen musste und es wird nahezu selbstverständlich, ihm in diesem Kampf weiter beizustehen. Nagel wollte zeigen, was ist. Wir werden bezeugen, was bleibt.

(Axel Matthies)


Erhellende Blicke in das Leben unserer Abgeordneten

In unserer Veranstaltungsreihe BIESDORFER BEGEGNUNG fand am 23. September 2020 im Schloss Biesdorf eine Podiumsdiskussion zum Thema „Lust und Frust des Abgeordnetenlebens“ statt. Unser Vorstandsvorsitzender Dr. Heinrich Niemann, der die Veranstaltung moderierte, konnte als Gäste begrüßen:

Christian Gräff (CDU), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (MdA) seit 2016, in den Jahren 2006 bis 2016 Bezirksstadtrat in Marzahn-Hellersdorf,
Dr. Günter Krug (SPD), Bezirksverordneter seit 2019 in der BVV Marzahn-Hellersdorf, von 2001 bis 2011 MdA, Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates
Udo Wolf (Die Linke), MdA seit 2001, in den Jahren 2009 bis 2020 Vorsitzender der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus (AGH),
Stefan Ziller (Bündnis 90/Die Grünen), MdA von 2006 bis 2011 und erneut seit 2016.

Die Parlamentarier von links: Wolf, Krug, Ziller und Gräff (Foto: C. Dressel)


Lust am Abgeordnetenleben empfinden alle vier Gesprächspartner, weil sie sich aus eigenen Stücken für diese Tätigkeit entschieden haben. Frust resultiert bisweilen aus vorgegebenen Anforderungen der Aufgaben, die ihnen übertragen wurden. In welchem Verhältnis Lust und Frust stehen hänge auch davon ab, wie engagiert der Abgeordnete sein Mandat wahrnimmt und wie hoch der eigene Arbeitsaufwand ist, weil andere nicht in gleichem Maße mit ziehen.

Ausführlich schilderten die Gesprächspartner ihren Arbeitsalltag als Abgeordnete:
Plenarsitzungen, Fraktionssitzungen, Beratungen in Ausschüssen, Kontaktpflege im Wahlkreis, Wahrnehmung von Fachaufgaben, Aktivitäten in der eigenen Partei, Hintergrundgespräche mit Journalisten.
Ergänzend berichtete Herr Wolf, welche Aufgaben ein Fraktionsvorsitzender zusätzlich wahrnehmen muss: Abstimmungen in der Koalitionsrunde, Teilnahme an Senatssitzungen und Staatssekretärkonferenzen.
Die Mitglieder des Abgeordnetenhauses sind Hauptzeit-Parlamentarier, die ca. 80 Stunden/Woche (Koalition) bzw. ca. 70 Stunden/Woche (Opposition) für ihre Tätigkeit aufwenden. Für die Familie bleibt wenig Zeit. Auf Anfrage informierten die Abgeordneten über ihre Vergütung.

Die Arbeit in der BVV eines Berliner Bezirkes ist dagegen ehrenamtlich; die Verordneten sind berufstätig. Sie erhalten eine Aufwandsentschädigung. In Beantwortung der Frage, welche Quellen Abgeordnete nutzen, um sich das notwendige Wissen für ihre Tätigkeit anzueignen, wurden genannt: Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern, Kontakte mit gesellschaftlichen Gruppen (Unternehmen, Organisationen, Verbände), wissenschaftliche Mitarbeiter und Dienste. Schon bei der Kandidatenaufstellung für die Wahlen berücksichtigen die Parteien die vorhandene Fachkompetenz. Für eine erfolgreiche Tätigkeit ist wichtig, dass der Abgeordnete lernt, wen er fragen kann und welche Fragen er stellen muss.


In der Diskussion wurde deutlich, dass AGH und BVV unterschiedliche rechtssetzende Funktionen haben. In diesem Sinne ist die BVV kein gesetzgebendes Parlament, hat neben der Kontrolle der Tätigkeit des Bezirksamtes aber rechtsverbindliche regulierende Funktionen bei der Festsetzung des Haushaltes. Die Festsetzung von Bebauungsplänen ist eine der wenigen Rechtsakte der BVV.
Herr Gräff erklärte auf Nachfrage, dass seine Tätigkeit im BER-Untersuchungsausschuss zu 80% Frust und 20% Lust sei, letzteres insbesondere aus der Sicht, dass man auch Neues lernt. Die aktuell in der Presse wieder aufgekommene Diskussion um die TVO, der seit Längerem diskutierten Straßenverbindung zwischen Marzahn und Köpenick, bereite ihm keinen Frust, weil es den Planfeststellungsbeschluss 2021 geben wird.

Auf der langen Bank? Die TVO mit ihren Korridoren
(Grafik: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt)


Von den Gästen wurde die Frage gestellt, warum so lange über Veränderungen diskutiert wird und sich dann doch wenig oder gar nichts ändert. Die Abgeordneten bestätigten, dass es tatsächlich Streit in der Koalition und mit der Opposition gibt, der dem gültigen Demokratieverständnis entspringt. Wenn dann eine Entscheidung getroffen ist, müssen Probleme bei der Umsetzung gelöst werden. Und nicht alles kann umgesetzt werden. Herr Gräff hob in diesem Zusammenhang hervor, dass sich die Dinge auf Landesebene schwieriger gestalten als auf Bezirksebene.

Parlamentsferien, machten die Gesprächspartner abschließend deutlich, seien nicht nur Urlaub, sondern eher Zeit zum Nachdenken, zur Aufbereitung von Geleistetem und zur Kontaktpflege.
Die Frage nach einer Begrenzung der Dauer der Abgeordnetentätigkeit auf zwei Legislaturperioden wurde nicht von allen Gesprächsteilnehmern mit einem grundsätzlichen Ja beantwortet. Es wurde darauf unter anderem hingewiesen, dass ein Abgeordneter erst nach zwei Wahlperioden über den erforderlichen Sachverstand verfügt. Zudem nehme in den Parteien die Zahl der Mitglieder ab, die Lust auf eine Tätigkeit in der Politik haben.

Zwei intensive Stunden des Zuhörens und Diskutierens brachten interessante Informationen und neue Einblicke für die Teilnehmer im bis auf den letzten (coronabedingt zugelassenen) Platz gefüllten Heino-Schmieden-Saal.

Luftige Coronakulisse im Heino-Schmieden-Saal (Foto: C. Dressel)


Die nächste BIESDORFER BEGEGNUNG am 26. November hat zum Thema:

„Journalismus heute – was kann, was soll, was muss er?!“

Unter den eingeladenen Journalisten werden Chefredakteure Berliner Zeitungen sein.


(Prof. Dr. Gernot Zellmer)


Heino-Schmieden-Weg auf dem historischen Gutshof Biesdorf

Wer die Baufortschritte auf dem ehemaligen Gutshof Biesdorf aufmerksam verfolgt wird festgestellt haben, dass die zur Vermietung stehenden Wohnungen nun über Adressen verfügen. Sie sind benannt nach Heino Schmieden sowie Elsa Ledetsch und Gisela Reissenberger.

So wird das Gelände bald ausssehen. (Foto: Stadt und Land)

Wie uns die Pressestelle der ausführenden Gesellschaft Stadt und Land auf Anfrage mitteilte, liegt die Verantwortung für Straßennamen final bei den Bezirken von Berlin. „Diese prüfen (um zum Beispiel Doppelbenennungen zu anderen Bezirken auszuschließen) und bevorzugen aktuell die Vergabe von Frauennamen. In Rücksprache mit dem Bezirk kam es dann zur formellen Einreichung der Anträge mit den Namen Elsa Ledetsch und Gisela Reissenberger sowie Heino Schmieden (der Architekt des Biesdorfer Schlosses) und Karl Janisch (Planer vom Kuhstall, späterer Werksarchitekt bei Siemens). Alle vier Vorschläge haben einen lokalen Bezug zu Marzahn-Hellersdorf. Die Namensgebung wurde dann in einem langen Verfahren auf der städtischen Ebene geprüft und genehmigt, um Doppelbenennungen auszuschließen – Janisch fiel aber durch, weil in der Siemensstadt bereits eine Straße nach ihm benannt ist.“

Wir freuen uns vor allem, weil Schlossarchitekt Heino Schmieden nun noch einen Schritt weiter in die Öffentlichkeit gerückt ist. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit Geschäftsführer Ingo Malter im März 2017 im Stadtteilzentrum Biesdorf zur künftigen Bebauung des historischen Gutsgeländes hatte unser Verein angeregt, Heino Schmieden mit einer Straße zu bedenken. In seiner großen Monografie „Heino Schmieden – Leben und Werk des Architekten und Baumeisters 1835 – 1913“ prägte Dr. Oleg Peters in seiner Schlussbetrachtung unter anderen diese Sätze:

„Heino Schmieden war ein äußerst produktiver Architekt, der mit einer großen Anzahl von Bauten zwischen 1866 und 1913 maßgeblich das Bauen in Preußen bzw. im Deutschen Reich prägte.

Mit seinem ästhetischen Feingefühl, scharfen technischen und organisatorischen Verstand, seiner lebendigen Tatkraft und Fachbegeisterung war er für die bauliche Entwicklung dieser Zeit von außerordentlicher Bedeutung.

Zahlreiche Bauherren, für die er Bauten ausgeführt hat, lobten ihn für die Einhaltung der Baukosten und die termingetreue Fertigstellung der Vorhaben.“

Die Frauen Elsa Ledetsch und Gisela Reissenberger, Mutter und Tochter, sind „Gerechte unter den Völkern“. Von 1943 bis 1945 versteckten sie in der Gleiwitzer Straße in Biesdorf gemeinsam fünf jüdische Mitbürger und retteten sie so vor der Ermordung durch die Nazis. Am 19. Oktober 1987 waren beide von der Gedenkstätte „Yad Vashem“ in Israel geehrt worden.

Gisela Reissenberger und Elsa Ledetsch (Foto: Yad Vashem)

Mit diesen Namensgebungen beweist der Bezirk Marzahn-Hellersdorf erneut sein Feingefühl für eine breitgefächerte und unvoreingenommene Auswahl.

Abschließend der Lageplan des Wohnungsstandortes mit den neuen Straßennamen.

Lageplan: Stadt und Land

(Axel Matthies)


„Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ – eine kurze Nachbetrachtung

Unsere erste eigene Veranstaltung nach der pandemiebedingten „Kulturpause“ war die Aufführung des Filmklassikers „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ im Heino-Schmieden-Saal am 16. September 2020. Uns stand dafür eine Kopie des Bundesfilmarchivs in Berlin zur Verfügung.

Filmplakat von Otto Nagel

Vorstandsvorsitzender Dr. Heinrich Niemann begrüßte die interessierten Gäste herzlich. Sie hatten sich ordnungsgemäß angemeldet und trugen die Maske dabei. Er erinnerte daran, dass in einer Woche, am 23. September, das lange Otto-Nagel-Jahr anläßlich dessen 125. Geburtstag im Jahre 2019 zu Ende gehen werde. Leider konnten die weitreichenden Planungen für dieses Jubiläum nicht adäquat umgesetzt werden. Trotzdem bleibe Nagel eine wichtige Bezugsperson unseres Vereins „Freunde Schloss Biesdorf“.

Vorstandsmitglied Axel Matthies führte dann kurz in den Film ein. Er skizzierte den Platz des Films innerhalb der kurzen Serie proletarischen Filmschaffens am Ende der Weimarer Republik. Er stellte die Produktionsfirma Prometheus, den legendären Kulturmanager der KPD Willi Münzenberg und das Team am Filmset vor. Die Prometheus hatte den Film mit knappen 60.000 RM produziert, jedoch ein Vielfaches eingespielt. Er war ihr erfolgreichstes Projekt. Der Film sei besonders gekennzeichnet durch Kamera und Regie Piel Jutzis. Matthies sizzierte die Lebenswege der wichtigsten Schauspieler_innen, insbesondere Alexandra Schmitts als Mutter Krausen und Ilse Trautscholds als deren Tochter Erna.

Alexandra Schmitt und Ilse Trautschold

Der Film sei eine filmdokumentarische und filmkünstlerische Anklage der kapitalistischen Gesellschaft und eine bittere Erzählung des proletarischen Lebens im Berliner Wedding. Davon zeugen Piels großartige Bilder ganz nach dem Vorbild des frühen sowjetrussischen Films.

Die Idee für den Film stammte von Heinrich Zille, der eine Episode in der Familiengeschichte als Leitidee vorschlug: sein Großvater hatte sich verschuldet und keinen Ausweg gewusst – so habe der seinen guten Anzug angetan und sich erhängt. Ähnlich verhält es sich bei „Mutter Krausen“. Der Sohn versäuft eingesammeltes Zeitungsgeld in der Kneipe, so dass in der Kasse 20 Mark fehlen. Die Familie beratschlagt, aber es findet sich keine Lösung. Mutter Krausen trinkt noch eine Tasse Kaffee und legt sich dann aufs Bett – der Gashahn ist geöffnet. Zille wollte sich mit dem Film befreien von dem ihm durch die Unterhaltungsindustrie angehefteten Image des Proletarierverstehers, dem selbst in der zermürmendsten Situation immer noch eine witzige Wendung einfällt. Ganz an seiner Seite waren dabei Käthe Kollwitz und Otto Nagel, die konsequent jegliche Verkitschung des Stoffes, gerade nach dem Tod Zilles unmittelbar vor Drehbeginn, verhinderten.

Matthies benannte abschließend die Ergebnisse der Wahl zur Stadtverordneten-versammlung von Berlin 1929, dem Entstehungsjahr von „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“: SPD und KPD erhielten zusammen 53%, die NSDAP bekam 5,8%. Beide großen Arbeiterparteien fanden nicht zu einer gemeinsamen Regierung. Berüchtigt aus diesem Jahr ist der sogenannte „Blutmai“.

Für Filmkenner gab es am Ende des recht gut erhaltenen Filmmaterials eine herbe Enttäuschung: die kurze, aber überzeugend inszenierte Demonstration, in die Erna hinein gerät und wo sie ihren Freund Max trifft, fehlt komplett. Während Mutter Krausen den Abschied vorbereitet, wehrt sich Erna gegen diese Logik. Den Filmemachern war diese Szene, wie wir aus Dokumenten wissen, sehr wichtig. Bei der Uraufführung im Berliner „Alhambra“ am Kurfürstendamm hatte Paul Dessau seine Filmkapelle an dieser Stelle die „Internationale“ spielen lassen. Später, nach aufgeheizten politischen Debatten, schnitten konservative Kinobesitzer diese Szene sogar eigenhändig heraus. Schade, dass das Filmarchiv nur über eine solche Kopie verfügt.

(Axel Matthies)


Versprochen: Fontäne im Schlossparkteich sprüht im Jahr 2021

Seit dem Frühjahr 2018 hat die Fontäne im Schlossteich Biesdorf ihren Betrieb eingestellt. Grund dafür ist die Verkrautung und Verunreinigung des Teiches. Die Pumpe kann nicht genügend Wasser anziehen.

Während seit der Anlage des Teiches durch Albert Brodersen im Jahre 1900 Gärtner und Gärtnerinnen des jeweiligen Besitzers bedarfsgerecht in das Wasser stiegen, um die anstehende Reinigung vorzunehmen, wurde im Jahre 2018 erstmals die Option einer nach EU-Recht notwendigen Ausschreibung für die erforderlichen Arbeiten gezogen. Hintergrund war vor allem, dass das Grünteam des Schlossparkes altersbedingt nicht mehr selbst die Reinigung bewerkstelligen konnte. Als unser Verein „Freunde Schloss Biesdorf“ den zuständigen Leiter in eine Beratung Anfang 2019 lud, erhielten wir die Auskunft, dass die Ausschreibung veröffentlicht sei. Lange geschah nichts. Anfang Mai 2020 ergab sich, anläßlich der Pflanzung von drei Birken im Andenken an die gefallenen und zeitweise im Schlosspark beerdigten sowjetischen Soldaten, die Gelegenheit, erneut nachzufragen. Die Antwort erstaunte: die Ausschreibung sei doch nicht herausgegeben, als notwendige Anlage fehle ein qualifiziertes Umweltgutachten. Die Verwaltung könne kein geeignetes Umweltbüro finden.

Ein Anblick, der trügt: der Teich ist verkrautet und sauerstoffarm

Nun, im Spätsommer 2020, zeigt sich ein optimistisches Bild: die Verantwortlichen bekennen sich zu eindeutigen Aussagen. In einer Anfrage, die Kristian Ronneburg, MdA der Fraktion der LINKEN, an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin gerichtet hatte, erhielt er unter anderen folgende Aussage, die von Staatssekretär Ingmar Streese unterschrieben war: die Schwimmfontäne ist sanierungsbedürftig, die Sanierung ist in Planung, die Sanierungskosten betragen 300.000 Euro, die geplante Inbetriebnahme ist 2021. Diese Information basiert auf der Zuarbeit der bezirklichen Grünflächenverwaltung. Wir stellen Ihnen die komplette Antwort hier zur Verfügung:

In seinem Tagesspiegel-Newsletter für Marzahn-Hellersdorf vom 1. September 2020 nimmt Redakteur Caspar Schwietering diesen Sachverhalt noch einmal auf und informiert über ein Telefonat mit Stadträtin Nadja Zivkovic: „Derzeit werde von einer Firma ermittelt, welche Tiere und Pflanzen sich im Schlossteich befinden. Anschließend will das Bezirksamt entscheiden, ob es eine Umweltverträglichkeitsprüfung braucht, bevor die Bauarbeiten beginnen können. Klingt so, als könnte es noch etwas dauern, bis die Fontäne wieder Wasser in die Höhe spritzt“, heißt es im Newsletter.

Wir hingegen verlassen uns auf die Aussage des Staatssekretärs und verfolgen die Dinge mit großem Interesse weiter…