Vor einiger Zeit kam ich mit einer älteren Frau ins Gespräch, die während einer Veranstaltung im Biesdorfer Schloss aufgeregt ausrief: „Keiner redet darüber, dass hier einmal Familien gelebt haben.“
Durch zu viele schlecht recherchierte Medienberichte verbreitet sich bei Unwissenden in der letzten Zeit die Überzeugung, das Schloss wäre von 1945 bis zur Sanierung eine Ruine gewesen. Erst jetzt wäre alles schön, wie im Märchen…
Trotz eines miserablen Bauzustandes – das wissen wir seit der peniblen Sanierung dokumentarisch – wurde das Schloss immer genutzt: als Dorfklub, als Kreiskulturhaus, als Bibliothek und zuletzt als Soziales Stadtteilzentrum. Allen Widrigkeiten zum Trotz setzten viele Menschen ihre Kraft ein, das Schloss als gemeinnützige Einrichtung zu erhalten und zu betreiben.
Dennoch bleiben Wissenslücken. Eine wollen wir jetzt schließen. Sowohl nach dem 1. als auch nach dem 2. Weltkrieg waren im Schloss Zimmer bzw. Wohnungen eingerichtet worden, um die Wohnungsnot zu mildern. Die oben erwähnte Frau, Hannelore Bündig, hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben und Fotos aus dem Familienalbum dazu gelegt. Wir wollen sie Ihnen präsentieren.
Für uns war das Schloss nichts Besonderes
Für meinen Bruder Werner und mich war das Schloss nichts Besonderes. Von 1952 bis 1982 war es unser Zuhause, unser Elternhaus. Unsere Adresse war: Alt-Biesdorf 55.
Vor dem Krieg wohnten wir in Biesdorf in der Annenstraße. Unsere Mutter fuhr dann mit uns nach Schlesien zu den Großeltern. „Da sind wir vor den Bomben sicher!“ 1945 mussten wir dann auf die Flucht, über viele Umwege zurück nach Biesdorf. Die Wohnung in der Annenstraße gab es nicht mehr, dann eine winzige Bleibe im Ketschendorfer Weg. Das Haus gehörte wohl der Schauspielerin Steffie Spira, die wir dort oft trafen.
1950 kam unser Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Nun wurde es wirklich eng bei uns. Dann die Riesenüberraschung: Wir bekamen 1952 eine große Wohnung im Schloss zugewiesen. Mein Vater hatte im Schlosspark bereits eine Anstellung als Gärtner. Er blieb auf dieser Stelle bis zum Renteneintritt. Die Wohnung: zwei Zimmer, Küche, Ofenheizung, Klo im Keller (Wendeltreppe), Waschküche im Keller, Zugang von außen, großer Boden – ein Restbestand der oberen ausgebrannten Etage. Hier hatte bald mein Bruder sein Reich.
Zu der Zeit wohnten im Schloss bereits die Familie Schütze auf der Südseite und im Souterrain der Parkwächter Jäckel mit seiner Frau. Etwa 1956 erfolgte dann der Einbau einer Zentralheizung und eines Badezimmers, das neben unserem Wohnzimmer eingerichtet wurde. Inzwischen war unsere Wohnung ein gemütliches Zuhause geworden, obwohl wir Kinder kein eigenes Zimmer hatten. Ich schlief im großen Schlafzimmer, mein Bruder im Wohnzimmer.
Natürlich haben wir dann im Laufe der Zeit mehr über das „Schloss“ bzw. die Villa und die Siemens‘ erfahren. Aber nach wie vor fanden wir es nicht erwähnenswert anderen zu erzählen, dass wir im „Schloss“ wohnen. Dazu war es viel zu einfach: Nordseite usw. Manche Schulkameraden lebten viel komfortabler. Erst Jahre später lernten wir Wohnung und Park schätzen und lieben.
Rodeln und Planschen im Park
Aber die Wiese vor unserer Wohnung gehörte uns. Hier lagerten wir auf dem Rasen, hier wurde die Wäsche getrocknet. Übrigens gab es das Rosenbeet schon damals, angepflanzt von meinem Vater.
Auf den Wegen spielten wir Hopse, Ball und Seilspringen. Der Teich war recht sauber, wir sprangen da im Sommer schon mal rein. Die Fontäne sprudelte auch immer. Da habe ich ein Bild mit meiner Freundin.
Im Winter, wenn der Teich mal zugefroren war, liefen wir darauf Schlittschuh. Gerodelt wurde von der Rückseite des Eiskellers, das war die höchste Stelle, und dann runter auf die Wiese. Ansonsten war der Eiskeller aber tabu! Das war eines der wenigen Verbote, das meine Mutter ausgesprochen hatte. Nur ein Mal haben wir ihn von innen gesehen. Als das Schwimmbassin gebaut wurde, das war Ende der 1950er Jahre, badeten wir dort. Das Wasser war sauber, man konnte die Fliesen am Boden erkennen.
Der Park gehörte uns und unseren Freunden im Sommer wie im Winter. Es gab ja nur wenige Besucher. So richtig eroberten wir das ganze Gelände aber erst, als die Gräber der russischen Soldaten nicht mehr da waren. Die Begräbnisse, die in den Jahren davor stattfanden, haben wir von unserem Küchenfenster aus mit Neugier und Beklemmung beobachtet.
Turmbesteigungen
Zu den ganz besonderen Ereignissen in den ersten Jahren zählt das Besteigen des Turms für mich, meinen Bruder und meine Freundinnen. Durch unsere Wohnung konnte man über den Boden (Teil der ehemaligen 1. Etage, provisorisch mit Brettern abgesichert) zum Turm gelangen und dort mit Leitern in mehreren Abschnitten hinaufsteigen. Es war herrlich! Es war bestimmt nicht ganz ungefährlich, aber toll. Mein Bruder hat dort oben oft allein gesessen und gelesen, wir Mädchen, damals um die 14 Jahre alt, hatten die Jungen unserer Klasse unter Vorwänden in den Park bestellt und dann von oben überraschen wollen. Es gab sogar ein „Turmlied“:
Denke man ja nicht, du gingest mir zu Herzen,
weil wir uns grüßen und miteinander scherzen.
Nein, ich bleibe gern allein,
Nein, ich bleibe gern allein,
Dies soll nur ein Wechselspiel und weiter gar nichts sein.
Wir waren oft auf dem Turm. Dort fühlten wir uns großartig. Das sind mit meine schönsten Erinnerungen. Spätestens 1958 war dann aber Schluss. Der Zugang wurde gesperrt.
Angst vor den Schlossgeistern
So um die Zeit als ich 14 Jahre alt war, gab ich doch manchmal an, dass ich im Schloss wohnen würde. Dabei vergesse ich nie die Angst, die ich hatte, wenn ich im Dunkeln nach Hause musste. Vom Bahnhof Biesdorf rannte ich durch den Park (nachdem die rote Mauer des Friedhofs weg war) im Dauerlauf. Es gab ja keine Lampen. Von der Straße Alt-Biesdorf durch den Säulengang (Haupteingang, Portikus): Angst, Angst, Angst! Oft musste mich mein Bruder abholen, aber dazu hatte er auch nicht immer Lust und Zeit. Auch das Fenster im Schlafzimmer, das zur Terrasse hinaus ging, erfüllte mich mit Angst. Da könnte ja jemand einsteigen. Denn der Park wurde immer belebter. Also, es hatte auch seine Schattenseiten, Schlossbewohner zu sein.
Kulturhaus und Familie
Die Zeit, als dann ab 1958 das Kulturhaus auf der Südseite langsam einzog, war toll. Die Familie Schütze war inzwischen ausgezogen. Jedes Wochenende spielte Live-Musik und wir tobten uns richtig aus. Meine Mutter Herta Poerschke war die „Frau für alle Fälle“: Hausmeisterin, Trösterin für Liebeskummer, sie schmierte die Schmalzstullen und vieles mehr. Mein Bruder regelte oft den Einlass und den Getränkeverkauf. Am Wochenende war das Kulturhaus ein bißchen wie Familienbetrieb.
In den Jahren 1959/60 hatte der Kulturhausleiter ein Atelier für zwei Künstler aus Pankow eingerichtet: Roland Spörl und Baldur Schönfelder. Spörl verstarb leider schon früh – er wird mit seinem Werk der Berliner Schule zugerechnet. Baldur Schönfelder studierte seinerzeit an der Kunsthochschule Weißensee und war später Meisterschüler von Waldemar Grzimek. Er war lange Jahre Professor in Weißensee. Als Bildhauer schuf er viele Plastiken im Auftrage des Magistrats von Berlin.
Randale gab es nicht, aber viele schöne Stunden. Eine Freundin von mir lernte dort ihren Mann kennen, sie sind heute noch verheiratet. Eine weitere, die sich in den Schlagzeuger verguckt hatte, wurde von ihrem wütenden Vater weggeschleppt. Sie hatte keine Erlaubnis erhalten, zum Tanzen zu kommen. Ich selbst verliebte mich in den Klubleiter. Im Kaminzimmer feierten wir noch 1978 ein Klassentreffen. Mutter sorgte für alles. Ohne sie lief eigentlich nichts: Ferienspiele, Hundeausstellung, Jugenclub. Alle verließen sich auf sie, die immer im Hintergrund blieb. Eigentlich war sie 30 Jahre lang die „Schlossherrin“.
Weitere Entwicklung ab 1970
Ab den 1970er Jahren begann sich der Betrieb aus dem familiären Milieu heraus langsam zu professionalisieren. Im Kaminzimmer wurde eine Gaststätte eingerichtet. Ich erinnere mich an die Faschingsveranstaltungen und die Bockbierfeste im Herbst. Im Turmzimer hatte die Abteilung Kultur des Stadtbezirkes ein Büro, das lange Zeit von Herrn Sell und anschließend von Herrn Kistenmacher geleitet wurde. Jeden Sonntag fand ein Briefmarkentausch statt. Donnerstags waren die Rentnernachmittage und freitags traditionell immer die Jugend-Disco. Auch Katzenausstellungen wurden nun organisiert. Im Park nahe der S-Bahn wurde der Indianerspielplatz erbaut. Am ehemaligen Gärtnerhäuschen nahe der heutigen B1 legte mein Vater einen Heidegarten an.
Geschäfte zum Einkaufen und Armeesiedlung
Mit dem Einkaufen war es damals in Biesdorf anders als heute. Die wichtigsten Geschäfte waren in Alt-Biesdorf und in der Oberfeldstraße. Von uns aus gingen wir zum Bäcker Glowania in der Straße Alt-Biesdorf, kurz vor der Ecke Oberfeldstraße. Mit dem Sohn Rudi ging ich in eine Klasse. Direkt an der Ecke war dann das Lebensmittelgeschäft Staaks. Es war ein tolles Familiengeschäft. Um die Ecke in der Oberfeldstraße waren dann ein Friseur, ein Arzt und gegenüber eine Kindereinrichtung. Dann weiter Richtung S-Bahn die Post und auf der gegenüber liegenden Seite der „Sachsenkonsum“. Die Armeesiedlung war 1952/53 gebaut worden. Dort zogen Offiziere ein, die in Strausberg stationiert waren. Zwei meiner Klassenkameraden wohnten dort. Mit beiden habe ich heute noch Kontakt. Sie können auch noch viel erzählen. Die Siedlung hieß bei uns nur Sachsensiedlung. Die Eltern meiner Freunde waren aber gar keine Sachsen. Also im „Sachsenkonsum“ gab es Lebensmittel, Fleisch und Gemüse.
Hinter der Bahnschranke lag links dann die Kneipe Neumann, die ja nun abgerissen wurde. Da trank auch mein Vater gerne sein Feierabendbier. Wenn meine Mutter aber das Abendbrot fertig hatte und Vater noch nicht zu Hause war, wurde unsere Hündin Bella losgeschickt: hol Herrchen nach Hause. Bella rannte los und Herrchen kam sofort!
Hinter der Bahnschranke rechts war dann noch die Eisdiele Orth. Dort trafen sich alle: Schüler, Jugendliche, Freundinnen. Hier gab es das beste Eis meines Lebens. Hier ließen wir unser ganzes Taschengeld.
Anfang, Mitte der sechziger Jahre haben mein Bruder und ich eigene Familien gegründet. Jetzt wurde das Schloss Mittelpunkt für unsere Kinder, die ihre Ferien und viele Wochenenden bei Oma und Opa verbrachten. Die Türen bei Familie Poerschke waren immer für alle Kinder, Enkel und Freunde offen.
(Axel Matthies)