Der deutsch-deutsche Bilderstreit, der vor 25 Jahren hysterisch startete, beginnt sich mittlerweile in mildem Abendlicht zu präsentieren. Es bedurfte einiger Anstrengungen.
Bereits 1990 hatte der aus Ostdeutschland stammende Maler Baselitz behauptet, die Maler aus der DDR seien „keine Künstler“ oder „einfach nur Arschlöcher“ gewesen. Darauf steigerte sich der Streit im Jahrestakt zum ideologisch überformten kreischenden Krawallgesang, der in der Skandalausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ 1999 in Weimar gipfelte. Noch während der Ausstellung entbrannte ein erbitterter Streit über die Kunstwerke, die wie „Geschichtsmüll“ dargestellt worden waren. Mehrere Künstler forderten die sofortige Rückgabe ihrer Werke oder entfernten diese selbst. Nun trat in den westdeutschen Feuilletons eine Atempause, mittelfristig Bedacht ein. Vor fünf Jahren, im Oktober 2010, konnte der Kulturwissenschaftler Eduard Beaucamp, Kunstkritiker und langjähriger Leiter des F.A.Z.-Feuilletons, bei einem Vortrag in Frankfurt/M. vorläufige Bilanz ziehen:
„Trotz aller Attacken und Ausgrenzungsmanöver hat die qualifizierte Ostkunst den Vitalitätstest glänzend bestanden… Das eindrucksvollste, anspruchsvollste und schönste Kunstwerk aus der Zeit der DDR, Tübkes monumentales Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, das wenige Wochen vor dem Mauerfall 1989 eröffnet worden war, ist mit noch immer fast hunderttausend Besuchern im Jahr zu einer Publikumsattraktion in Thüringen und Deutschland geworden.“
„Trotz allem Auf und Ab in den letzten zwanzig Jahren, trotz allem Hin und Her, trotz der vielen Intrigen und Konflikte möchte ich mit einer optimistischen Prognose enden. Was am meisten ermutigt, ist das Publikum, zumal das Westpublikum, das sich nicht von den Kartellen und Seilschaften des Kunstbetriebs beeindrucken lässt. In den kunstliebenden, kunstkennerischen Kreisen ist die qualifizierte Ostkunst längst angekommen und eingebürgert.“
Eduard Beaucamp (Foto F.A.Z.)
Entwicklung eines jungakademischen Diskurses
Parallel zu den Entwicklungen in den Feuilletons und „Kunstkartellen“ hatte sich, eher von der Öffentlichkeit unbemerkt, ein akademischer Diskurs aufgebaut, der insbesondere von jungen Kunst- und Kulturwissenschaftler_innen angeführt wird. An der Leuphana Universität Lüneburg etablierte sich ein jungakademischer Kreis unter Leitung von Elize Bisanz, der Kultursemiotik, zeitgenössische Kunst und europäische Integration als verknüpftes Forschungsfeld sich auserkoren hatte. Unter den teilhabenden Studierenden sowie Graduierten nahm Marlene Heidel eine auffällige Stellung ein, sie war Projektkoordinatorin und Mitherausgeberin. Sie ist die Autorin des jetzt vorzustellenden Bandes „Bilder außer Plan“, der sich vielschichtig mit dem Kunstarchiv Beeskow befaßt; zugleich ihre Dissertationsschrift, die mit „summa cum laude“ bewertet wurde. Diese trägt den Titel „Die Unvorhersagbarkeit der Kunst. Mechanismen des kulturellen Wandels am Beispiel der DDR-Kunst“ und wurde 2015 mit dem Nachwuchspreis Forschung der Leuphana Universität Lüneburg bedacht. Von 2009 bis 2012 belegte sie eine Forschungsstelle in Beeskow.
Hochkomplex und materialreich
Die Arbeit ist mit mehr als 240 Seiten äußerst voluminös. In der Einleitung erklärt die Autorin ihre wissenschaftlichen Ambitionen. Ihr Ansatz sei selbstverständlich nicht, die Kunst aus der DDR lediglich als Artefakte einer abgeschlossenen Vergangenheit bzw. einer längst untergegangenen Gesellschaftsordnung festzuschreiben. Ihre Methode ist „die einer kulturwissenschaftlichen Denk- und Wahrnehmungsraumschaffung, die mittels kunst- und bildwissenschaftlicher, kulturtheoretischer und kultursoziologischer Ansätze die Aufmerksamkeit gegenüber der ästhetischen Funktion der Werke in den Diskurs setzt… Zudem ermöglicht die Mehrperspektivität eine aufschlussreiche Kopplung zweier untrennbar miteinander verbundener Zugänge zur ästhetischen Funktion eines Werkes: zum einen der Zugang über die künstlerische Struktur und zum anderen über die Verortung des Werkes innerhalb der Kultur.“ (S. 10) Auf einen einfachen Nenner gebracht: vom Bilderstreit zum Bild vorrücken.
Mit diesem methodischen Grundansatz arbeitet sich Marlene Heidel durch die 6 Kapitel ihres Buches, die sie in der Einleitung so beschreibt (es handelt sich um eine Zitatmontage, die wegen der Textübersichtlichkeit aber nicht gekennzeichnet wird):
Im Kapitel I wird der Bilderstau als Begriff eingeführt, der einen Zugang zum überfüllten Archiv und den damit verbundenen kulturellen Vorgängen ermöglicht. An dieser Stelle wird nach Ursachen für die Verdrängung der Bilder, für ihre Randstellung im kollektiven Gedächtnis gefragt und für eine kontinuierliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Beeskower Kunstbestand – die bis jetzt noch aussteht – argumentiert.
Das Kapitel II wendet sich der Genese und dem Korpus des Kunstarchivs Beeskow zu, da über diese die Fixierung der Werke auf die Vergangenheit und die Aberkennung ihres Kunstcharakters, ihre Verdrängung konkret nachvollzogen werden können. Gleichzeitig wird damit erstmals die komplexe Geschichte dieses Archivs rekonstruiert. Erinnert werden in diesem Zusammenhang vergessene, abgespaltene Teile. Damit zeigt sich, dass das Kunstarchiv weitaus mehr Dimensionen umfasst als den Fokus auf die DDR-Auftragskunst.
Die gestauten Bilder
Dem Forschungsstand zur Kunst aus der DDR von 1989 bis heute wendet sich das Kapitel III zu. Es zeichnet nach, wie sich arrivierte Forschung und der Ausstellungsbetrieb über zwei Dekaden vor allem auf das Kulturfördersystem, die politische Ikonographie sowie die Provenienz hinsichtlich der Kunst aus der DDR konzentrierten. Aus diesen Interessenfeldern gingen wichtige Erkenntnisse und Publikationen hervor. Zu selten tauchte in Forschungspraxis und -plänen jedoch der Blick auf das Bild, seine Sprache, seine Form und die damit verbundene ästhetische und symbolische Funktion der künstlerischen Arbeiten auf.
Vertieft wird der Zugang zur ästhetischen Funktion und der kulturellen Verortung der Werke im »Kulturwissenschaftlichen An- und Einsatz« mit Lotmans Kulturtheorie sowie mit dem Begriff der Bildsphäre von Elize Bisanz im Kapitel IV. Kultur ist abhängig von ihrer Beobachtung. Eine besondere Bedeutung kommt daher der Wahl des wissenschaftlichen Modells zu, denn sie entscheidet über das Wissen, das in der Beobachtung entsteht und bezogen auf das Kunstarchiv Beeskow zur Grundlage für weitere kulturpolitische Entscheidungen werden kann. Aus diesem Grund kommt in dieser Arbeit der Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Beobachtungsinstrumentarium eine besondere Relevanz zu. Betrachtet werden dabei z.B. gewisse Ähnlichkeiten im heutigen Umgang mit künstlerischen und wissenschaftlichen Artefakten aus dem Raum des ehemaligen Staatssozialismus bzw. Staatskommunismus: Neben ihrer Exklusion aus dem kulturellen Gedächtnis besteht die Tendenz ihrer nachträglichen Politisierung.
Ein Vergleich zwischen dem Denken Lotmans und Luhmanns soll jedoch auf die Gemeinsamkeiten und Austausche jenseits der politischen Spaltung hinweisen. Dieses Kapitel ist dem Archiv der Wissenschaft gewidmet, als einem Ort, der für die Kommunikation über Kunst und somit für das Kunstarchiv von essentieller Bedeutung ist. Ohne eine entsprechende wissenschaftliche Praxis vor Ort hat das Kunstarchiv Beeskow kaum eine Zukunft.
Als Schlüsselbegriff zur ästhetischen Funktion diskutiert das Kapitel V den Begriff der Unvorhersagbarkeit innerhalb der Natur- und Kulturwissenschaft. Reagiert wird damit auf die These, dass Lotmans Kultursemiotik – wie auch die Kunst innerhalb des Staatssozialismus – vor allem ein Ausdruck des politischen Systems sei. Dem entgegen wird seine Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Unvorhersagbarkeit innerhalb der Wissenschaft verankert und auf seine Bedeutung für die Semio- und Biosphäre verwiesen. Als das Wesen der Kunst wird in dieser Arbeit das Hervorbringen des Außerplanmäßigen in Relation zu einem System verstanden. Dieser Überwindungscharakter der Kunst muss nicht auf das System bzw. die Sprache der Kunst beschränkt sein. Für Pierangelo Maset ist es »entscheidende Aufgabe der Kunst, Momente hervorzubringen, die stark genug sein können, jede Systemlogik zu überwinden«.
Nicht etwa das Abbild einer Systemlogik, sondern ein eigenes Bildprogramm sowie die Dominanz der ästhetischen Funktion zeigen sich in den vier Gemälden aus dem Kunstarchiv Beeskow, denen das Kapitel VI begegnet. »Junge Frau« von Christine Braun, »Im Turm« von Roland Borchers, »Sitzender« von Hans Aichinger und »Die Kreuzung« von Neo Rauch werden an die ästhetische Bildsphäre der Gegenwart und die Kunstgeschichte angebunden. Der ästhetischen Präsenz der Werke wird Raum gegeben und die Präsenz dieser vier Bilder – dieser Werke aus dem Ort der Verdrängung und der gestauten Kultur – innerhalb gegenwärtiger Bildsphären sichtbar gemacht.
Bereits in dieser kurzen Anmoderation ist der hochkomplexe Charakter der Arbeit erkennbar. Er wird ergänzt durch einen enormen Materialreichtum. Marlene Heidel hat eine Arbeit vorgelegt, die gegenwärtig einzigartig ist. Das heißt aber auch, dass dieses Buch auf keinem Nachttisch liegen wird – es lässt einen nicht ruhen, sondern immer wieder nachdenken und anderswo nachblättern. Wenn man die Methode der Autorin und ihr wissenschaftliches Instrumentarium annimmt, kann man es mit großem Gewinn lesen. Auf vielen Seiten finden sich kleinere und größere Exkurse, die den Leser für einen Augenblick vom Hauptstrang weglocken, aber gleichzeitig enorm mit Wissen und kognitiver Empathie bereichern. Wir wollen das noch an der Besprechung des Bildes »Junge Frau« von Christine Braun zeigen.
Oszillation zwischen Malerin und Modell
Christine Braun, Junge Frau. 1985
Seit der Autor dieser Zeilen, also ein subjektives Ich, die Titelseite dieses Buches betrachtete, fiel ihm nicht mehr zum Bild ein als: fahl, farblos, flach… Höchstens ein Vergleich mit einem anderen Bild drängte sich auf: dies könnte die Tochter der „Ausgezeichneten“ von Wolfgang Mattheuer sein. Marlene Heidel hat sich intensiv mit dem Bild beschäftigt und ausführlichst mit der Malerin Christine Braun telefoniert. Herausgekommen ist dieses.
Die Stunde null dieses Porträts ist das Verlassenwordensein. So sucht die Malerin diese immer existenzielle Erfahrung künstlerisch zu verarbeiten. Kunstgeschichtlich ist Christine Braun Edvard Munch eng verbunden. Ihr Bild nimmt Munchs „Der Künstler und sein Modell“ auf, ohne dabei epigonal zu arbeiten. In ihrem Selbstporträt „inszeniert sich Braun in verschiedenen kunsthistorisch tradierten Weiblichkeitsrollen: die Madonnenhafte; die Schöne; die Heldin Judith; die todbringende, dämonische Salome sowie das passive Modell“ (S. 215). Aber sie adaptiert nicht linear sondern lässt ihre junge Frau zwischen Malerin und Modell oszillieren. Marlene Heidel fasst zusammen: „Mit dem reflektierten Einsetzen und Ansetzen an Traditionen der Kunstgeschichte wirkt ‚Junge Frau‘ keineswegs als statisches Abbild. Die ikonischen Elemente entfalten ihre Bedeutung im Prinzip des Nicht-Identischen bzw. im Prinzip der Differenz. Damit gelingt Christine Braun… eine eigene ästhetische Bildfindung. Dies spricht nicht nur für eine gewisse Autonomie des Gemäldes, sondern auch für eine gewisse Autonomie der Malerin Christine Braun.“ (S. 216)
(Die Argumentation der Autorin musste hier stark verkürzt werden.)
An dieser Stelle sei auf die Homepage der Malerin Christine Braun verwiesen, auf der ihr weiterer künstlerischer Weg gut sichtbar und auch die Stellung dieses Selbstporträts im Vergleich zu anderen noch transparenter wird.
Fazit
Mit ihrem Buch will Marlene Heidel, wie sie schreibt, kein marktkonformes Großkonzept für das Kunstarchiv Beeskow entwerfen. Vielmehr sei diese Arbeit eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem besonderen Archiv und einzelnen Werken. Letztendlich soll die Verbindung zwischen den aus dem kulturellen Gedächtnis exkludierten Werken und der historischen sowie gegenwärtigen Bild- und Wissensproduktion aufgezeigt werden. „Die Zukunft des Kunstarchivs Beeskow wird im Wesentlichen davon abhängen, ob es gelingen wird, diese Verbindung zu reanimieren, herzustellen sowie aufrechtzuerhalten und das Depot im Sinne eines Archivs zu gestalten.“ (S. 135)
Für unseren Verein ist das Kunstarchiv Beeskow und seine Arbeitsfähigkeit eine Voraussetzung für das Bilderschloss Biesdorf. Wir haben in den zurückliegenden 14 Jahren alles getan, um Schloss Biesdorf zu retten und in eine zukunftsfähige Position zu befördern. Diese wurde mit den Fördermittelgebern als Bilderschloss („Bilderstreit“) definiert. Insofern sehen wir mit großem Respekt auf die eindrucksvolle Arbeit von Marlene Heidel und betrachten sie als Baustein für unsere weitere Argumentation für das Biesdorfer Schloss und dessen künftiges Konzept.
Ganz am Anfang dieses Beitrages hatten wir behauptet, dass der deutsch-deutsche Bilderstreit gegenwärtig in mildem Abendlicht erscheine. Zur Entkrampfung des Streites und zum aufrichtigen wissenschaftlichen Diskurs tragen diese Arbeit von Marlene Heidel und andere Arbeiten jüngerer Kunst- und Kulturwissenschaftler_innen wesentlich bei. Wir wünschen diesen Arbeiten eine weite Verbreitung.
Wenn Sie sich einen Eindruck vom Buch verschaffen wollen, klicken Sie hier.
Der rbb brachte am 3. Dezember 2015 in seiner Reihe „Stilbruch“ einen Beitrag über das Kunstarchiv Beeskow; mit Dr. Marlene Heidel. Sie können diesen bis auf weiteres hier nachbetrachten.
Marlene Heidel
Bilder außer Plan
Kunst aus der DDR und das kollektive Gedächtnis
Lukas Verlag Berlin 2015
271 Seiten, 43 teils farbige Abbildungen
ISBN 978-3-86732-218-8
30,00 Euro
E-Book 24,00 Euro
Marlene Heidel (v.) mit ihrer damaligen Kollegin Claudia Jansen im Kunstarchiv Beeskow (Foto MOZ)
(Axel Matthies)