Im Auslandseinsatz: Der Maler Otto Nagel als „roter Kurator“

Vortrag von Dr. Christian Hufen am 12. Februar 2025 im Schloss Biesdorf

Der Berliner Ehrenbürger Otto Nagel lebte von 1952 bis zu seinem Tode 1967 in Biesdorf. Ein wichtiges Anliegen unseres Vereins ist es, die Erinnerung an diesen bedeutenden Maler, Publizisten und Kulturpolitiker auf vielfältige Weise wach zu halten, damit er in seiner Vaterstadt lebendig bleibt. Die Tatsache, dass 1924/25, also vor 100 Jahren, in Sowjetrussland die Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung stattfand, die von Otto Nagel kuratiert wurde, war uns Anlass, den Kunstwissenschaftler Dr. Christian Hufen zu einem Vortrag im Rahmen unserer traditionellen Veranstaltungsreihe mit der Volkshochschule Marzahn-Hellersdorf einzuladen.

Im folgenden Bericht sind die kursiv gesetzten Textpassagen dem Redemanuskript entnommen, das uns Dr. Hufen freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

Dr. Christian Hufen

Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung im Sowjetrußland

Heute vor 100 Jahren weilte Otto Nagel an der Wolga, über 2000 Kilometer vom heimatlichen Wedding entfernt. Es war die erste Auslandsreise des Kommunisten und Künstlers. Er war nicht als Privatmann gekommen, sondern als Ausstellungsmacher, mit rund 500 Werken deutscher Künstler, die in der Sowjetunion gezeigt werden sollten. Die Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung, die 1924/25 in Moskau, Saratow und Leningrad zu sehen war, sollte die Annäherung beider Länder und den professionellen Austausch befördern. Nagel war der Ansprechpartner, der Publikum und Fachleuten die ausgestellten Werke erläuterte. Diese Reise stellte entscheidende Weichen für Beruf und Karriere. Persönlich-biografisch wurde sie zum Wendepunkt in seinem Leben. Der Kreml erteilte die Ausfuhrgenehmigung für eine junge Schauspielerin, die der Künstler und Kurator auf einem Empfang kennengelernt und, Hals über Kopf, in Leningrad geheiratet hatte: Valentina Nikitina, besser bekannt als Walli Nagel.

Otto Nagel 1925 in Saratow *)

Organisator der Ersten Allgemeinen deutschen Kunstausstellung und damit Auftraggeber von Otto Nagel war die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) unter Leitung des deutschen Kommunisten Willi Münzenberg. Münzenberg war am Zustandekommen der berühmten Russischen Kunstausstellung beteiligt, die im Herbst 1922 in der privaten Galerie Van Diemen Unter den Linden eröffnete. Das Deutsche Reich und der preußische Staat waren daran interessiert, scheuten jedoch ein öffentliches Bekenntnis: die kulturpolitisch wichtige Gastausstellung, bei der erstmals in Deutschland auch Werke der russisch-sowjetischen Avantgardekunst zu sehen waren, durfte nicht im Kronprinzenpalais gezeigt werden, der 1919 eröffneten modernen Abteilung der Nationalgalerie.

Die Erste Allgemeine deutsche Kunstausstellung in Rußland war nun in doppelter Hinsicht eine Selbstermächtigung: Münzenbergs IAH organisierte im Alleingang die deutsche Gegenausstellung mit politisch engagierter Kunst. Sogar das Staatliche Bauhaus in Weimar beteiligte sich.

Otto Nagel und Eric Johansson, ein Genosse aus der „Roten Gruppe“, trafen Mitte September 1924 in Leningrad ein. Wie sich Johansson 1965 erinnerte, war der Zeitpunkt für ihre Ausstellung genau richtig: „Niemals, nirgendwo und vielleicht auch nicht wieder sind künstlerische Probleme so leidenschaftlich, freimütig und allseitig diskutiert worden wie in den Klubs und Verbänden der damaligen sowjetischen Künstler.“

Die Erste Allgemeine deutsche Kunstausstellung war die erste Schau zeitgenössischer Kunst aus dem Ausland, die in der international isolierten Sowjetunion gezeigt wurde. Zur Eröffnung am 18. Oktober 1924, in den Räumen des Historischen Museums in Moskau, sprach Anatolij Lunačarskij, der zuständige Volkskommissar für Bildung, anerkennend über die Entwicklung deutscher Kunst, die heute mit Leidenschaft, Zorn und Hoffnung vor allem propagandistisch orientiert sei.

Nach großem Erfolg in der sowjetischen Hauptstadt – es wurden 40.000 Besucherinnen und Besucher gezählt – reiste Otto Nagel über Leningrad nach Saratow, ins Autonome Gebiet der Wolgadeutschen. In Saratow entstanden einige Gemälde und Zeichnungen – die einzigen bekannten Kunstwerke, die Otto Nagel von seinen zahlreichen Reisen in die Sowjetunion von dort mitbrachte.

Ausstellungsaal in Saratow **)

Die Ausstellung lief von Januar bis März 1925. Nach den Erfahrungen in Moskau präsentierte der Kurator ein neues Konzept: weniger Werke in didaktischer Anordnung. Otto Nagel sortierte Bilder und Skulpturen unter vier Kunstrichtungen ein: Politische Kunst, Expressionisten, Abstrakter Expressionismus und Konstruktivisten.

Schließlich Leningrad. Dem Pressespiegel zufolge nahm die kunstinteressierte Öffentlichkeit der vormaligen Hauptstadt des Russischen Reichs kaum Notiz von der deutschen Wanderausstellung. Nagels Gemälde „Der Jubilar“ wurde angekauft und war in den Folgejahren auf diversen Ausstellungen in Moskau zu sehen. Nagels erste Ausstellung in der Sowjetunion schloss im Juni 1925.

Spätere Reisen in die Sowjetunion

Zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution 1927 überbrachte der sowjetische Botschafter in Deutschland Käthe Kollwitz eine Einladung, die sie gern annahm. Sie und ihr Gatte gehörten zu der über 100 Personen starken deutschen Delegation, die zu den Feierlichkeiten anreiste. Das Ehepaar Walli und Otto Nagel reiste mit dieser Gruppe. So steht es in der sowjetischen Literatur, nicht aber in den mir bekannten Schriften über Nagel.

Das Ehepaar Nagel hielt sich bis 1933 öfters, wenn nicht regelmäßig in der Sowjetunion auf. Zur großen Kollwitz-Ausstellung von 1932 reisten die beiden ohne Künstlerin an, die mit der Aufstellung ihrer Skulpturen der trauernden Eltern in Belgien beschäftigt war, auf dem Friedhof mit dem Grab des im Weltkrieg gefallenen Sohnes. Mit 142 ausgestellten Werken war es die größte sowjetische Schau zu Lebzeiten der Künstlerin. Auf deren ausdrücklichen Wunsch übernahm der „rote Kurator“ die Hängung. Als ihre Ausstellung in den Räumlichkeiten der Moskauer Künstlergenossenschaft eröffnet wurde, lag ein Katalog mit Beitrag von Otto Nagel vor, der abschließend auch an einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung teilnahm. Er preist Kollwitz als vorbildliche politische Künstlerin, die in ihren Blättern Not und Leidenschaft, Kampf und Streben der arbeitenden Klasse bezeuge. Nach zweiwöchigem Gastspiel in Moskau gelangte die Kollwitz-Ausstellung nach Leningrad.

Mit seiner Erfahrung als Vertrauensmann deutscher Künstler und Kulturschaffender, der persönliche und professionelle Kontakte zu Vertretern der östlichen Siegermacht besaß, wurde Otto Nagel nach Kriegsende zu einer Schlüsselfigur im „Kulturbund zur demokratische Erneuerung Deutschlands“. Der „rote Kurator“ und seine Frau konnten ab 1945 ein Netzwerk aktivieren, zu dem Personen zählten, die auf einflussreiche Positionen gelangt waren, in SMAD und sowjetischem Kulturbetrieb. Otto Nagel reiste Mitte der 1950er Jahre wieder nach Moskau, um Kunstschätze von nationaler Bedeutung zurückzuholen. Auch diese Mission war erfolgreich, wird aber selten erwähnt.

Otto-Nagel-Ausstellung 1960 in Moskau *)

Im Herbst 1960 reiste Otto Nagel wieder in die Sowjetunion, diesmal zur Eröffnung seiner eigenen Retrospektive. Sie war ihm zu seinem 65. Geburtstag von der Ost-Berliner Nationalgalerie ausgerichtet worden und hatte Zwischenstation in Stockholm gemacht. Am 27. September, schon an seinem 66. Geburtstag, wurde sie in Moskau eröffnet – mit eigenem Katalog und in Anwesenheit alter Bekannter. Gewiss auch mit ihrer Stimme wurde der – noch amtierende – Präsident der Ost-Berliner AdK im Oktober 1960 in die sowjetische AdK aufgenommen.

Lenins Totenmaske

Von seiner Rußlandreise zur Kollwitz-Ausstellung 1932 brachte das Ehepaar ein ungewöhnliches Souvenir mit in den Wedding. Die Rede ist von Lenins Totenmaske. Wiedergegeben ist der auf dem Sterbebett ruhende, zur Seite geneigte Kopf. Es scheint, als hätte Lenin gerade seinen letzten Atemzug getan. Weiter unten sind Sterbeort und -datum sowie der Name des Künstlers eingraviert: „Gorki 22. Januar 1924 4 Uhr nachts S. Merkurov“.

Diese Totenmaske Lenins ist mit einer Zueignung versehen: „An Otto Nagel und Wally freundlich gewidmet S. Merkuroff 12. Mai 1932 Moskau“. Die abenteuerliche Geschichte der Totenmaske nimmt ihren Lauf. Der Witwe zufolge wurde sie in einem Berliner Keller verstaut und überstand den Bombenkrieg dort unversehrt. Nach der Befreiung brachten die Nagels den Kopf, vermittelt wohl durch Kulturoffizier Alexander Dymschitz, ihren Leningrader Bekannten, zur Sowjetischen Militärverwaltung in Karlshorst und tauschten ihn – ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten – gegen ein Spanferkel ein.

Märchenhaft auch die nächsten Wendungen: Nagels Exemplar der Totenmaske kehrt 1948 nach Moskau zurück, weil der erste Abguss in den Kriegswirren verloren gegangen sei, heißt es. Später hört Walli, im Leninmuseum wäre nun der Gips aus dem Besitz der Lenin-Witwe ausgestellt und fordert die für Berlin bestimmte Maske zurück – mit Erfolg. Otto Nagel hatte seine Tätigkeit als Kulturfunktionär im Verband Bildender Künstler und als Präsident der Akademie der Künste der DDR gerade beendet, als der Künstler und Genosse im Januar 1963 ans Rednerpult des VI. Parteitags der SED tritt. In Anwesenheit des sowjetischen Staats- und Parteichefs Nikita Chruschtschow übergab er, auch in Wallis Namen, die symbolträchtige Totenmaske der Regierung seiner Republik, angeführt von Staats- und Parteichef Ulbricht. Das wertvolle Objekt gelangte ins Museum für Deutsche Geschichte, also ins Zeughaus. Dort liegt es auch heute noch, wohlbehalten und wenig beachtet.

Randnotiz

In seinem Vortrag berichtete Dr. Hufen, dass ihm bei seinen Recherchen Erstaunliches auffiel:

Nicht bloß DDR-Kunst wurde ins Depot verbannt, sondern auch vieles, was von der reichen Tradition „proletarisch-revolutionärer Kunst“ der Weimarer Republik die Nazizeit überdauert hatte und im Osten bis 1990 als nationales Erbe galt. Grosz, Vogeler und Nagel – unsere Staatlichen Museen, die Stadt Berlin und die vollständig steuerfinanzierte Akademie der Künste verwalten deren Bilderschätze und Nachlässe. Überall fehlt eine Dauerausstellung mit ihren Werken.

*) Die Fotos wurden für den Vortrag freundlicherweise vom Archiv der Akademie der Künste bereit gestellt.
**) Das Foto hat freundlicherweise Sergey Fofanow dem Vortragenden zur Verfügung gestellt.


Überall ist Kunst – doch sieht man sie noch?

Eine Busrundfahrt zu Kunstwerken im öffentlichen Raum des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf fand am 10. Mai dieses Jahres statt. Drei Stunden lang führte der Kunsthistoriker Martin Schönfeld vom Büro für Kunst im öffentlichen Raum in Berlin 20 hochinteressierte Gäste durch den Bezirk. Die Route führte zu ausgewählten Kunstwerken, die sowohl in den Großsiedlungen in der DDR-Zeit als auch nach 1990 entstanden sind. Veranstaltet wurde die Rundfahrt von der Volkshochschule Marzahn-Hellersdorf und unserem Verein Stiftung OST-WEST-BEGEGNUNGSSTÄTTE Schloss Biesdorf e.V. im Rahmen einer Vortragsreihe zu Geschichte und Zukunft des Schlosses Biesdorf. Da das Schloss künftig Gegenwartskunst ausstellen wird, war diese Tour ein spezieller Zugang dafür.

Start war im alten Rathaus Marzahn. Hier wurde zuerst das Standesamt besichtigt. Martin Schönfeld informierte über die beiden Hauptkunstwerke am Ort: die Fruchtbarkeitsgöttin von Peter Makolies und die textilen Applikationen von Nora Kaufhold im Trauzimmer. Die Fruchtbarkeitsgöttin ist eine kleine Plastik, deren Bauchraum geöffnet ist, aus dem fünf kleine Babys herausschauen. Die textilen Applikationen geben dem Zimmer eine warme und zugleich unbeschwerte Atmosphäre. Anschließend ging es nach unten: in den Ratskeller. Die meisten Gäste waren schon einmal dort zu Gast gewesen. Nun mussten sie Spinnenweben beiseiteschieben, denn das Restaurant ist seit zwanzig Jahren geschlossen. Aber im Lichte der Notbeleuchtung war die Ausstattung des Kellers noch gut zu erkennen. Sechs Figuren von Peter Makolies stimmten die Gäste auf einen Ort der Heiterkeit und des Genusses ein.

 km1

 

Im Ratskeller

km2Fruchtbarkeitsgöttin

 

Anschließend ging es mit dem Bus zur Marzahner Promenade. Die Tour fuhr die Dr. Hermann Gruppe als Vereinsmitglied. Zuerst grüßte das „Denkmal für die Erbauer Marzahns“ von Karl Hillert und Karl Günter Möpert von seinem neuen Standplatz am künftigen Marktplatz in der Promenade. Martin Schönfeld bezeichnete die beiden als lockere Typen, die selbstbewusst um sich blicken. Ich möchte wieder den Soziologen Wolfgang Engler zitieren, der über den Arbeiter in der DDR folgendes schreibt: Arbeiter „strahlen eine aproblematische Sicherheit aus, wie sie nur Menschen eigen ist, die das Fürchten sozial nie gelernt haben… So werden Arbeiter nie wieder blicken.“ Der gesellschaftstheoretische Kontext ist bei Engler komplexer, aber diese Beobachtung stimmt. Wer heute im Berufsverkehr mit der S7 nach Ahrensfelde oder mit der M6 von Marzahn nach Hellersdorf fährt, wird diesen Blick nicht mehr finden. Genau den gegensätzlichen Gestus strahlen aber die beiden Arbeiter aus. Kalle und Dieter könnten sie heißen; sie gucken mal gerade, ob die Bauarbeiterversorung schon offen ist oder ob die angekündigte Betonlieferung endlich kommt. Und wenn nicht heute, dann machen sie halt Feierabend. Dem Taktstraßenleiter bleibt nichts anderes übrig: „Wenn keen Material kommt, machen wa fuffzehn.“

km3

Erbauer Marzahns

 

Danach zog die Gruppe weiter zu den Giebelmosaiken von Walter Womacka „Arbeit für das Glück des Menschen“ und „Frieden“. Beide Mosaiken sind großartiges Handwerk. Von den älteren Ostdeutschen werden die Kunstwerke Womackas geschätzt. Ich bin offen gesagt kein großer Freund dieser Giebelarbeiten. Themen wie Glück, Frieden und Arbeit sind sehr komplexe Themen, die „symbolisch“ schwer darstellbar sind. Als Gegenentwurf zu solch einem komplexen Thema ist mir Wolfgang Mattheuers „Jahrhundertschritt“ erwägenswerter.

 

km4

Arbeit für das Glück des Menschen

Unmittelbar vor dem Freizeitforum dann eine sehr wichtige Arbeit der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger: die drei Figuren „Die Geschlagene/Die sich Aufrichtende/Der sich Befreiende“ mit dem Titel „Denkmal für Kommunisten und antifaschistische Widerstandskämpfer“. Die drei Figuren stehen ganz offensichtlich für die meisten der das Freizeitforum Marzahn betretenden Menschen beziehungslos zu ihnen im Raum. Unser Verein möchte daher anregen, die Künstlerin mit einer kleinen Platte zu ehren, auf der ihr Name und der Titel des Kunstwerkes genannt werden. Ingeborg Hunzinger war eine bedeutende deutsche Künstlerin, die selbst aktive Antifaschistin war. Zu Ehren ihres 100. Geburtstages am 3. Februar 2015 wäre dies ein überzeugender Beweis des Bezirkes für seine demokratische und antifaschistische Grundhaltung. Im Bezirk stehen weitere Plastiken der Künstlerin, darunter die Skulptur „Die Sinnende“ im Schlosspark Biesdorf.

km5

Die Gruppe, vorn die Geschlagene

Anschließend besichtigte die Gruppe die großen Deckengemälde im Arndt-Bause-Saal des Freizeitforums Marzahn, deren Schöpfer Peter Hoppe war. Auf 400 qm werden die Tageszeiten Morgen, Mittag, Abend sowie der Traum reflektiert. Mit heller Farbigkeit und großzügiger Malweise verleiht das Werk dem Saal eine besondere künstlerische Leuchtkraft. Es gibt in Berlin aus jüngerer Zeit kein vergleichbares großes Deckengemälde. Peter Hoppe, der einem breiten Publikum nicht so bekannt ist, ist im Bezirk mit weiteren großflächigen Giebelgestaltungen vertreten. 1993 stiftete er der Dorfkirche Wölsickendorf (Landkreis Barnim) ein selbst gemaltes Altarbild.

Abschließend fuhr der Bus mit den Kunstenthusiasten nach Hellersdorf, wo Kunstwerke aus den 1990er Jahren besichtigt wurden. Der Wohnungsbau im damaligen Bezirk Hellersdorf war zur Wende noch nicht abgeschlossen. Die Gestaltung der öffentlichen Räume wurde daher insbesondere in der Verantwortung der damaligen Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf realisiert. Diese hatte ein anderes Verständnis von Kunst am Bau. So aber entstand in Hellersdorf ein gegenüber Marzahn eigener künstlerischer Charakter, der von der Bevölkerung angenommen wurde. Zum Abschluss führte Martin Schönfeld in die sogenannte Zwischenablage auf dem Hof des Dienstgebäudes in der Riesaer Straße, wo abgebrochene Kunstwerke gesammelt werden. Hier konnte sich die Gruppe noch einen Eindruck verschaffen, wo Bauten abgerissen wurden, aber Kunstwerke erhalten blieben. Auch dies war ein eigener zeitgeschichtlicher Eindruck.

km6In der Ablage

Mehr als 460 solcher Kunstobjekte hat die Statistik kartiert: Wandmalereien an Wohngebäuden, Schulen oder Kitas, Skulpturen in Parkanlagen, mit Keramiken gestaltete Hauseingänge, kunstvolle Installationen. Leider wurden Dutzende zerstört oder sind dem Abbruch von Gebäuden zum Opfer gefallen. Dennoch sind sich Kunsthistoriker sicher, dass diese so dichte Gestaltung eines großen Stadtraumes mit künstlerischen Werken einmalig in Deutschland, ja in Europa sei.

km7

Giebel in Kaulsdorf Nord

Abschließend seien mir ein paar grundsätzliche Gedanken gestattet. Architekturbezogene Kunst war inhärenter Bestandteil des komplexen Wohnungsbaus, der Wohn- und Gesellschaftsbauten, die technische Infrastruktur sowie den Verkehrsbau plante und gestaltete. Kunst hatte dabei insbesondere die Aufgabe, die Wohn- und Gesellschaftsbauten besser unterscheidbar zu machen – sie zu individualisieren. Denn die Außenwände, die aus den Plattenwerken geliefert wurden, wirkten oft dunkel oder fahl. Man kann dies auf historischen Fotos gerade bei 11-Geschossern gut nachvollziehen. Durch die Kunst bekamen die Gebäude ein freundliches Gesicht. Da Kunst am Bau natürlich auch eine serielle Frage ist, muss man durchaus einräumen, dass nicht jede Kita oder jede Schule das Kunstwerk an seine Eingangstür bekam. Dies wird in der Dokumentation „Kunst in der Großsiedlung“ durchaus deutlich. So wurden schnell oder zu schnell Kunstwerke entsorgt. Eine ganz wichtige Frage ist die nach der Haltbarkeit der Objekte. Viele sind aus Sandstein oder als Mosaikwerke aufgestellt worden. Vor 30 Jahren hat sich niemand mit der Frage beschäftigt, wie diese wohl im Jahre 2014 aussehen werden. Bei einigen ist die Abnutzung, verschärft durch Vandalismus, so hoch, dass man sie kaum noch als Kunstwerke wahrnimmt.

Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf bekennt sich zu den überkommenen Kunstwerken im öffentlichen Raum. Innerhalb des EU-Projektes LHASA (Large Housing Area Stabilisation Action) hat er die Werke kartiert und nach ihrem Zustand geschätzt. In einer zweiten Phase sollen gefährdete Kunstwerke konservatorisch gesichert werden. Nicht alle Objekte werden jedoch überleben können. In der Großsiedlung werden Wohnbauten weiterhin energetisch saniert. Dies ist auch ein eigener Wert zur Klimastabilisierung, der im Zweifelsfall durchaus gegen Kunst am Bau ermächtigt werden kann. Aber es besteht gute Hoffnung, dass sich die Situation stabilisiert und verbessert. Der Vandalismus hat signifikant nachgelassen. Junge Familien ziehen in die Großsiedlung, die den Zusammenhalt in den Kiezen verbessern. Sicher wird das auch den Kunstwerken nutzen, wieder in den Fokus der Bewohner zu gelangen. Denn man kann mit diesen Kunstwerken auch spielen…

(Axel Matthies, Stiftung OST-WEST-BEGEGNUNGSSTÄTTE Schloss Biesdorf e.V.)