Die letzte Lesung des Jahres 2019 in dem von Kulturstadträtin Juliane Witt organisierten „Literaturclub – Autoren lesen im Schloss Biesdorf“ fand am 15. Dezember statt. Er war der österreichischen Autorin Lili Grün gewidmet. Die Veranstaltung war im Mai kurzfristig abgesagt worden, fand nun aber eine hochinteressierte und zahlreiche Zuhörerschaft. Die Verlegerin Britta Jürgs (Verlag AvivA) und die Literaturwissenschaftlerin Anke Heimberg stellten das Leben und Bücher der Autorin vor.
Lili Grün, eigentlich Elisabeth, eine Wienerin des Jahrgangs 1904, kam Ende der 1920er Jahre nach Berlin, um hier in der hippen europäischen Metropole ihre Karriere als Schauspielerin zu befördern. Daheim, im nach dem Staatsvertrag von Saint‐Germain‐en‐Laye erheblich verkleinerten Österreich, gab es wenige Engagementmöglichkeiten und das Tingeln in den verbliebenen deutschsprachigen Provinztheatern der neu gegründeten Tschechoslowakei war ihr nicht aussichtsreich. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern musste sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Aber, wie der Berliner damals schon sagte: erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Berlin war zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 eine pulsierende Stadt mit vier Millionen Einwohnern. Mit der Krise schnellt die Zahl der Arbeitslosen auf 450.000 Menschen, der „Blutmai“ ist Ausdruck der sozialen Krisensituation. Die Reichsregierungen wechseln, die NSDAP erstarkt. Die gerade erst eingeführte Arbeitslosenversicherung implodiert durch die Krise und wirft sehr viele Familien in existenzielle Bedrohung. Unlängst hatten wir in der Lesung des Nagel‐Romans „Die weisse Taube“ durch Lutz Stückrath von diesen ungesicherten Lebensumständen im Arbeitermilieu erfahren. Noch unmittelbarer stellt der vor 90 Jahren uraufgeführte Film „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ das proletarische Leben dar.
Lili Grün fand in Berlin kein ansprechendes Engagement. Sie war gezwungen, sich den Lebensunterhalt mit allen möglichen Jobs zu sichern. Am längsten hielt eine Anstellung in einer Konditorei. Trotzdem knüpfte sie unermüdlich Beziehungen, versuchte etwas auf die Beine zu stellen. Sie stellte mit anderen eine kleine Kabarettgruppe – Die Brücke ‐ zusammen, in der sie auch eigene Gedichte vortrug und Couplets sang. Das war der Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Ihre Gedichte klingen so:
Die Verkäuferin
Womit darf ich dienen, gnädige Frau?
Das herrliche Grün passt genau
Zu Ihren strahlend blonden Haaren…
So müssen wir Komplimente machen,
mit heiterem Antlitz und fröhlichem Lachen
immer liebenswürdig sein
Jahraus, jahrein.
Doch abends um sieben sperren wir den Laden zu,
Dann haben wir selber ein Rendezvous,
Dann sind wir selber blond und apart,
Zierlich und zart…
Abends nach sieben ist der Alltag vorbei,
Und dann werden wir kleinen Verkäuferinnen
Plötzlich alle ganz groß und frei
Und dürfen zu leben beginnen.
Der Journalist Deniz Yüzel hatte vor einigen Jahren in der taz diesen Sound so charakterisiert: „Es sind präzise und gefühlvolle Beschreibungen des Großstadtlebens, humorvoll und selbstironisch erzählt, leicht melancholisch, ziemlich keck und sehr berührend.“ Aber diese späteren Bewertungen helfen ihr nicht: sie lebt täglich von der Hand in den Mund, muss sich monatlich Sorgen um die zu zahlende Miete machen und hat für Karriereträume als Schauspielerin gar keine Zeit mehr. Auch Lili Grün verkehrt im „Romanischen Café“ und hofft auf das Wunder…
Doch sie kehrt nach Wien zurück und kann dort zwei Romane abschließen und veröffentlichen: im Jahre 1933 „Herz über Bord“, der ihre Berlin-Erlebnisse verarbeitet und 1935 „Loni in der Kleinstadt“. Beide Romane sind nun im AvivA Verlag in Berlin unter den Titeln „Alles ist Jazz“ und „Zum Theater!“ erschienen. Die Wiener zeitgenössische Presse bejubelte ihren Debütroman und verfolgte ihre weiteren litarischen Schritte aufmerksam. Der damals junge Zsolnay-Verlag unterstützte seine Autorin nach Kräften. Leider war sie wahrscheinlich schon in Berlin, auch geschuldet den prekären Lebensbedingungen, an Tuberkolose erkrankt, was ihre Arbeitsfähigkeit stark einschränkte. Die folgenden Jahre verbrachte sie mit wechselnder Anerkennung in Wien und Prag sowie kurzzeitig in Paris. Es erschienen in der Presse vorwiegend Gedichte und Geschichten. Trotz aller Anstrengungen gelingt ihr kein literarischer Erfolg mehr.
Anke Heimberg, die Herausgeberin ihrer Bücher, würdigte das Werk: „Mit ihrer ganz eigenen heiter-melancholischen Note, deren Tonfall bisweilen an berühmte neusachliche Zeitgenossen wie Erich Kästner oder Kurt Tucholsky erinnert, beschreibt Grün in ihren lyrischen Songs die Sehnsüchte junger, moderner, selbstbewusster ‚Neuen Frauen‘ am Ende der Zwanziger Jahre – hin- und hergerissen zwischen Autonomie, Selbstbehauptung und dem ‚Mann mit starken Armen‘.“
An Lili Grün kann man nahezu idealtypisch das Schicksal junger KünstlerInnen in der Weimarer Republik analysieren. Es bleibt nüchtern zu konstatieren: Der Glanz der Goldenen Zwanziger Jahre basiert letztlich auf den prekären Arbeitsbedingungen seiner Akteure: der Ausbeutung der Tänzerinnen und Sängerinnen, der Clowns und Jongleure, der Schauspielerinnen und Schauspieler, der Journalisten und Fotografen, der Filmcrews und Bühnen- und Rundfunktechniker. Das ist in Berlin nicht besser als in Paris oder London. Sie lieferten sich aus für den Augenblick des Glücks, des Rausches und der Selbstbestätigung. Dafür standen ihnen in der Reichshauptstadt 49 Theater, 75 Kabaretts, 3 Opernhäuser, 200 Verlage, 37 Filmgesellschaften, 40 täglich erscheinende Zeitungen zur Verfügung. Auch wenn die große Mehrzahl der Akteure nicht reüssierte, sie vereinte ein Antrieb, den der junge Ödön Horvath ganz simpel aussprach: „Ich liebe Berlin!“.
Als 1938 die Nazis Österreich an das „Reich anschließen“ beginnt Lili Grüns letzter Lebensabschnitt. Als jüdische Frau muss sie sich allen faschistischen Rassegesetzen unterwerfen. Sie verliert ihre Wohnung und muss sich in eine Zwangsunterkunft einweisen lassen. Publizieren darf sie nicht mehr. Schwerkrank wird Lili Grün Ende Mai 1942 zusammen mit fast 1000 anderen Wiener Juden auf den 2000 km weiten Transport nach Minsk geschickt. Nach viertägiger quälender Fahrt werden die Menschen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Maly Trostinec erschossen und verscharrt. Von Lili Grün bleibt nichts.
In Wien erinnern ein Platz und in Berlin-Hellersdorf eine Straße an Lili Grün.
Die Autorin und ihr Werk sind durch die Neuveröffentlichungen nicht mehr vergessen: So hat sich Liv Lisa Fries, die Darstellerin der Charlotte in „Babylon Berlin“, den Zeitgeist in „Alles ist Jazz“ angelesen.
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P.S. Inzwischen ist der Literaturclub mit einer überragenden Veranstaltung in das neue Jahr gestartet: der Erfinder der Weltzeituhr Erich John stellte im Januar vor überfülltem Heino-Schmieden-Saal sein mit der Journalistin Heike Schüler geschriebenes Buch „Weltzeituhr und Wartburg-Lenkrad“ vor. Bereits am 16. Februar, 14.00 Uhr, folgt Katja Oskamp mit „Marzahn Mon Amour“. Wir wünschen diesem Literaturformat viele Besucher im Jahre 2020!
(Axel Matthies)