Vortrag „Heinrich Zille und sein Milljöh“ – mit Exkurs Zille in Lichtenberg

Die Kunsthistorikerin Nicole Bröhan, Tochter des im Jahre 2000 verstorbenen Unternehmers und Kunststifters Karl H. Bröhan, hielt am 19. Februar einen Vortrag über „Heinrich Zille und sein Milljöh“ im Schloss Biesdorf. Wir konnten Frau Bröhan kurzfristig für diesen Termin anläßlich der 50. Wiederkehr der Ernennung Heinrich Zilles und Otto Nagels zu Ehrenbürgern durch den Magistrat von Berlin am 4. Februar 1970 gewinnen. Frau Bröhan ihrerseits war dieser Einladung gerne gefolgt, hat sie doch zu Zille eine Biografie bei Jaron vorgelegt. Zille wiederum ist nicht nur der Zeichner Alt-Berlins und prominenter Bewohner des um die Jahrhundertwende expandierten Charlottenburg sondern auch profunder Kenner und langjähriger Weggefährte des Berliner Ostens. Wir zeichnen den Vortrag Frau Bröhans nach und ergänzen gelegentlich.

Zilles Familie reiste 1867 aus Radeburg bei Dresden in den Osten Berlins, ins heutige Friedrichshain. Auslöser dafür war eine erhebliche Steuerschuld des Vaters gegenüber Sachsen. Zille, der damals neun Jahre alt war, hat sich später so erinnert: „Am Anhalter Bahnhof kletterten wir aus dem Zug. Da hätten wir nun in der Gegend wohnen bleiben sollen. Denn die Leute siedelten sich damals in den Stadtteilen an, wo sie mit der Bahn ankamen. Die Pommern blieben am Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof), am Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) wohnten die Ostpreußen und Pollacken und am Görlitzer Bahnhof die Schlesier. Wir aber zogen in die Gegend am Schlesischen Bahnhof…“ Die Familie kam zunächst in einer kleinen Kellerwohnung in der Andreasstraße unter. Die Gegend, damals noch am südöstlichen Stadtrand, war bereits im Umbruch.

Karte mit der Bevölkerungsdichte aus dem Jahre 1875
am damaligen Frankfurter Bahnhof

An die Stelle der von Zille später „alte schwarze Häuser“ genannten Gebäude traten zunehmend die typischen Berliner Mietskasernen. Berlin, zumal nach dem Fluss französischer Kriegskontributionen, expandierte unvorstellbar und brauchte dazu jede Menge Arbeiter. Das „Stralauer Revier“ oder die „Stralauer Vorstadt“, in der die Zilles wohnten, ist dafür ein typisches Beispiel: die Bevölkerung wuchs hier von 80.000 im Jahre 1867 auf mehr als 300.000 im Jahre 1910. Es gab reichlich Spannungen unter den Zugewanderten. Heinrich besucht die Gemeindeschule in der Krautstraße, wo er mühelos lernt. Sein natürliches Hinterland, in das er Ausflüge unternimmt und zeichnet, sind Stralow, Lichtenberg, Friedrichsfelde und sogar Biesdorf. Von Biesdorf existiert eine Zeichnung der Feldmark.

Der junge Sachse hatte keine Berührungsängste mit Mitbewohnern. Er berlinert schnell. Armut, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung lernt er kennen wie seine zweite Haut. Der sogenannte fünfte Stand und die allgegenwärtigen Nutten, übrigens eine Sprachschöpfung jener Zeit (vom technischen Begriff „Nut“), sind ihm vertraut. Dieses Elend wird in seinen Zeichnugen zum Markenzeichen. Von einer Mitbewohnerin zeichnet er die Küche.

Küchentisch von Frau Clara

Überall macht er sich nützlich, um die Mutter zu unterstützen. Er hilft der Metzgersfrau, die nicht lesen und schreiben kann, bekommt dafür Wurst und heißt „Wurst-Zille“. Die benachbarte Weberwiese war Unterlage für alle möglichen Gestalten und hieß damals Lausewiese. Besuche im Zoo mussten die Kinder zu Fuss angehen. Wie im Sommersemester 1837 Karl Marx von Stralow aus zur Friedrichs-Wilhelm-Universität zogen sie auf der heutigen Holzmarktstraße spreeabwärts in die Altstadt und von dort durch den Tiergarten zum Zoo. Heute erscheint einem die S-Bahnfahrt dorthin schon lang.

Zille zeichnete Marx um 1900

Als sich der Schulabschluss abzeichnete, wies der Vater, der inzwischen als Mechaniker bei Siemens & Halske angestellt war, seinen Sohn an, Fleischer zu werden. Fleisch und Wurst würden bei der explosiv wachsenden Bevölkerung immer benötigt, argumentierte er. (Der Städtische Central-Vieh- und Schlachthof an der Ringbahn wurde am 1.3.1881 eröffnet.) Heinrich seinerseits war durch seinen Zeichenlehrer Spanner auf die Idee gekommen, Lithograph zu werden. Spanners Argumente: du sitzt inne warme Stube, wirst mit Sie anjeredet und kriegst keene dreckigen Kleider. Und so hat sich Heinrich durchgesetzt. 1872 nahm er die Lehre auf.

Die Lithographie gehörte im 19. Jahrhundert zu den am meisten angewendeten Drucktechniken für farbige Drucksachen. Sie war das Zwischenglied zwischen Malerei/klassischer Grafik und der Fotografie/Offsettechnik und bekam insbesondere in den späten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts überragende Bedeutung für Zeitungen, Zeitschriften, illustrierte Romane, die sich so viel besser verkaufen ließen sowie für Plakate, Emailleschilder usw. Nach dem Weltkrieg eroberten dann zunehmend die Fotografie und der Offsetdruck den Markt für Druckerzeugnisse. Zu Zilles Zeiten wurden aber begabte Lithographen, die die zu druckenden Texte und Bilder auf einem Lithographiestein manuell und seitenverkehrt anzufertigen hatten, wie Goldstaub gesucht. Während seiner Ausbildungszeit nahm Zille zusätzlichen Unterricht bei Carl Domschke und Theodor Hosemann.

Theodor Hosemann, Schlemmerfrühstück. 1856 Hosemann war als Lehrer Zilles schon ein alter Herr, der politisch durch die Schule des Biedermeier gegangen war

Nach einer Erbschaft von Zilles Mutter konnte die Familie sich im Jahre 1872 in der Gemarkung Lichtenberg ein Stück Land kaufen und dort ein Häuschen bauen (heutige Adresse Fischerstraße 8).

Das Grundstück wird durch dieses Wandbild ausgezeichnet

Zille lebte weiter bei der Familie und arbeitete seit 1877 bei der Photographischen Gesellschaft Berlin am Dönhoffplatz, unmittelbar neben dem Spittelmarkt. Er hatte nun ein anständiges Einkommen und konnte 1883 heiraten. Heinrich Zille siedelte mit seiner wachsenden Familie in der neu gegründeten Victoriastadt in verschiedenen Wohnungen. Der Historiker Günter Möschner hat am Anfang der 2000er Jahre in Adressbüchern die Aufenthaltsorte der Familie ermittelt. Dies ist eine eigene Geschichte.

1892 zog Heinrich Zille mit seiner Familie nach Charlottenburg, in den Fürstenbrunner Weg, seit 1895 Sophie-Charlotte-Straße 88. Grund war der Wegzug seines langjährigen Arbeitgebers vom Dönhoffplatz nach Westend. Zwischen 1880 und 1910 entstand in Charlottenburg im Zuge der Industrialisierung ein bevölkerungsreiches Arbeiterviertel. Die Einwohnerzahl der bis dahin beschaulichen Vorstadt – erst seit 1920 gehört Charlottenburg zu Berlin – wuchs innerhalb von 30 Jahren auf 300 000 an. An der Sophie-Charlotte-Straße sowie im ganzen Kiez drum herum wurden Mietskasernen für die immer zahlreicher werdende Arbeiterschaft gebaut. Nach 25 Jahren verließ Zille damit den Berliner Osten, der ihm so vertraut geworden war. Später schätzte er ein: „Die Menschen im Osten und Norden verstanden mich sofort…“

Reisigsammlerinnen in Westend. Reisig wurde für die Befeuerung der Kochmaschine benötigt. Das Foto wird Zille zugeschrieben

Heinrich Zille erobert nun zunehmend die Großstadt und entwickelt sich zum Künstler, zum „Pinselheinrich“. Schon in der Zeit seiner Anstellung am Dönhoffplatz ging er oft in den „Nussbaum“ in der Fischerstraße. Diese nahe gelegene Kaschemme wurde sein Stammlokal. Dort musste er gegen die Skepsis der Diebe, Gauner und Halbweltdamen ankämpfen, was ihm mit seinen „Spendierhosen“ gelang. Nun konnte er in aller Ruhe seine Zeichenstudien angehen.

Der historische „Nussbaum“ in einer Zille-Zeichnung von 1922

Um 1900 lernte Zille die jungen Bildhauer August Gaul und August Kraus kennen, die ihn an die Berliner Künstlerkreise heranführten. Es folgten gemeinsame Stunden des Aktzeichnens, Kegelabende und Atelierfeste, die er gelegentlich mit seiner Handkamera festhielt. Das neue Umfeld aus angesehenen Künstlern motivierte ihn, sein außergewöhnliches Talent zu nutzen und auszubauen. Er kommt schließlich auch in Kontakt zu Max Liebermann, der als Präsident der Berliner Secession dafür sorgt, daß Zille ab 1902 deren Mitglied wird. Liebermann bleibt auch in schwierigen Zeiten an der Seite des elf Jahre jüngeren Zille. Im Jahre 1925, anläßlich des Erscheinens des Bandes „Berliner Geschichten und Bilder“, schreibt er auf Bitten des Dresdner Verlegers Carl Reissner ins Vorwort: „Wir spüren die Tränen hinter Ihrem Lachen. […] Und diesem Humor, der so selten ist wie ein weißer Rabe, verdanken Sie Ihre Popularität und Ihre Größe als Künstler.“

1927 revanchiert sich Zille bei Liebermann
anläßlich dessen 80. Geburtstages

Zilles Förderer bleiben neben Liebermann und Walter Leistikow vor allem Käthe Kollwitz. Mit Liebermanns Protektion wird „Pinsel-Heinrich“ schließlich 1924 als Professor Mitglied der Preußischen Akademie der Künste.

Als Zille 1907 bei der Photographischen Gesellschaft aus seiner Festanstellung, wo er inzwischen technischer Leiter war, entlassen wird, bricht für ihn eine Welt zusammen. Gründe sollen sein fortgeschrittenes Alter und sein hohes Einkommen gewesen sein. Aber auch seine immer kritischer werdenden Zeichnungen werden als Anlass genannt. Denn, so Zille: „Es tut weh, wenn man den Ernst als Witz verkaufen muss.“ Tochter Margarete sieht ihn zum ersten Mal weinen. Zille empört sich. Er muss nun als freier Künstler die Familie ernähren. Die Kinder sind aus dem Gröbsten heraus, befinden sich allerdings erst in der Berufsfindungsphase. Der Vater weiß, dass er Abstriche machen muss für die Auftraggeber. Seine neue publizistische Heimat heisst nun „Lustige Blätter“. Wie zerrissen er ist und künstlerisch agieren muss, zeigen zwei Zeichnungen aus der Kriegszeit.

Zille zeichnete bis 1917 jede Woche ein Blatt für den „Ulk“, die Beilage zum „Berliner Tageblatt“, in denen er fiktive (und zuweilen erstaunlich naiv gesehene) Kriegserlebnisse zweier deutscher Soldaten an den Fronten erfand.
Dagegen: Das eiserne Kreuz von 1916

Als Mensch ist Zille ohne Sinn für Äußerlichkeiten. Immer trägt er den gleichen Anzug. Zu Hause läuft er im Hemd herum, kommt ohne jede Künstlerattitüde aus. Er bleibt Stammgast im Wirtshaus „Nussbaum“ in der Fischerstraße. Er hilft Freunden und Kollegen bei Arzt- und Apothekerkosten. Der Spitzname „Vater Zille“, der ihm immer öfter nachgerufen wird, gefällt ihm. Der einflussreiche Kunstkritiker Adolf Behne ernennt ihn zum „schöpferisch gewordenen Proletarier“.

Otto Nagel lernt Zille 1922 kennen. Der junge Nagel hat vor Zille, der sein Vater sein könnte, einen Riesenrespekt. Sie siezen sich bis zuletzt. Bei seiner Ausstellung 1925 in Sowjetrussland (Leningrad, Moskau, Saratow) stellt Nagel auch Bilder von Zille aus. 1928 arbeiten sie zusammen für den „Eulenspiegel“. Bei ihren gemeinsamen Streifzügen durch den Fischerkiez legt Zille den Keim für Nagels Alt-Berlin-Begeisterung. Nagel nennt es die „Liebe zur alten Stadt“. Beide sind bis an ihr Ende in einem bestimmten Sinne konservativ: Nagel kann sich nicht mit dem Abriss des Fischerkiezes arrangieren, Zille fehlt der Grund zur Karikatur der Weimarer Zeit.

Als 1919 Zilles Frau stirbt, muss er sich um seine Familie kümmern. Er gilt als Hypochonder; darf in der letzten Lebenszeit keinen Alkohol mehr trinken, keinen Zucker benutzen. Dafür Fachinger Wasser. „Bitte keinen Besuch – bin krank“ steht an seiner Wohnungstür. Der Briefträger rät von dem Aufkleber ab: „denn brechen se bei Ihnen in“. Der 70. Geburtstag 1928 wird noch einmal gefeiert. Das Märkische Museum macht die große Retrospektive „Zilles Werdegang“ und kauft 100 Werke an – den Grundstein für einen Zille-Fundus in Berlin (der am Ende des 2. Weltkrieges fast restlos verbrennt). Käthe Kollwitz sagt zu Zilles 70. Geburtstag: „Er ist restlos Künstler. Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter – und es sind Meisterwerke.“

Zille ist nun berühmt: überall hängt Kneipenschmuck, es gibt Zigarren mit Zille, Zille-Filme, Zille-Bälle… Alles Raubkopien! Nach heutigem Urheberrecht wäre Zille Millionär geworden, aber er hinterläßt nach seinem Tode im Sommer 1929, in Folge zweier Schlaganfälle, ein sehr schmales Vermögen. Sein letztes Vermächtnis flimmert am 30. Dezember am Kurfürstendamm über die Leinwand: Mutter Krausens Fahrt ins Glück – gewidmet dem großen Künstler Heinrich Zille. Dafür sorgten Käthe Kollwitz, Nagel und Baluschek.

Frau Bröhan am Ende ihrer begeistert aufgenommenen Lesung im Gespräch mit Besucherinnen

(Axel Matthies)

vom: 11.04.2020