„Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ – eine kurze Nachbetrachtung

Unsere erste eigene Veranstaltung nach der pandemiebedingten „Kulturpause“ war die Aufführung des Filmklassikers „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ im Heino-Schmieden-Saal am 16. September 2020. Uns stand dafür eine Kopie des Bundesfilmarchivs in Berlin zur Verfügung.

Filmplakat von Otto Nagel

Vorstandsvorsitzender Dr. Heinrich Niemann begrüßte die interessierten Gäste herzlich. Sie hatten sich ordnungsgemäß angemeldet und trugen die Maske dabei. Er erinnerte daran, dass in einer Woche, am 23. September, das lange Otto-Nagel-Jahr anläßlich dessen 125. Geburtstag im Jahre 2019 zu Ende gehen werde. Leider konnten die weitreichenden Planungen für dieses Jubiläum nicht adäquat umgesetzt werden. Trotzdem bleibe Nagel eine wichtige Bezugsperson unseres Vereins „Freunde Schloss Biesdorf“.

Vorstandsmitglied Axel Matthies führte dann kurz in den Film ein. Er skizzierte den Platz des Films innerhalb der kurzen Serie proletarischen Filmschaffens am Ende der Weimarer Republik. Er stellte die Produktionsfirma Prometheus, den legendären Kulturmanager der KPD Willi Münzenberg und das Team am Filmset vor. Die Prometheus hatte den Film mit knappen 60.000 RM produziert, jedoch ein Vielfaches eingespielt. Er war ihr erfolgreichstes Projekt. Der Film sei besonders gekennzeichnet durch Kamera und Regie Piel Jutzis. Matthies sizzierte die Lebenswege der wichtigsten Schauspieler_innen, insbesondere Alexandra Schmitts als Mutter Krausen und Ilse Trautscholds als deren Tochter Erna.

Alexandra Schmitt und Ilse Trautschold

Der Film sei eine filmdokumentarische und filmkünstlerische Anklage der kapitalistischen Gesellschaft und eine bittere Erzählung des proletarischen Lebens im Berliner Wedding. Davon zeugen Piels großartige Bilder ganz nach dem Vorbild des frühen sowjetrussischen Films.

Die Idee für den Film stammte von Heinrich Zille, der eine Episode in der Familiengeschichte als Leitidee vorschlug: sein Großvater hatte sich verschuldet und keinen Ausweg gewusst – so habe der seinen guten Anzug angetan und sich erhängt. Ähnlich verhält es sich bei „Mutter Krausen“. Der Sohn versäuft eingesammeltes Zeitungsgeld in der Kneipe, so dass in der Kasse 20 Mark fehlen. Die Familie beratschlagt, aber es findet sich keine Lösung. Mutter Krausen trinkt noch eine Tasse Kaffee und legt sich dann aufs Bett – der Gashahn ist geöffnet. Zille wollte sich mit dem Film befreien von dem ihm durch die Unterhaltungsindustrie angehefteten Image des Proletarierverstehers, dem selbst in der zermürmendsten Situation immer noch eine witzige Wendung einfällt. Ganz an seiner Seite waren dabei Käthe Kollwitz und Otto Nagel, die konsequent jegliche Verkitschung des Stoffes, gerade nach dem Tod Zilles unmittelbar vor Drehbeginn, verhinderten.

Matthies benannte abschließend die Ergebnisse der Wahl zur Stadtverordneten-versammlung von Berlin 1929, dem Entstehungsjahr von „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“: SPD und KPD erhielten zusammen 53%, die NSDAP bekam 5,8%. Beide großen Arbeiterparteien fanden nicht zu einer gemeinsamen Regierung. Berüchtigt aus diesem Jahr ist der sogenannte „Blutmai“.

Für Filmkenner gab es am Ende des recht gut erhaltenen Filmmaterials eine herbe Enttäuschung: die kurze, aber überzeugend inszenierte Demonstration, in die Erna hinein gerät und wo sie ihren Freund Max trifft, fehlt komplett. Während Mutter Krausen den Abschied vorbereitet, wehrt sich Erna gegen diese Logik. Den Filmemachern war diese Szene, wie wir aus Dokumenten wissen, sehr wichtig. Bei der Uraufführung im Berliner „Alhambra“ am Kurfürstendamm hatte Paul Dessau seine Filmkapelle an dieser Stelle die „Internationale“ spielen lassen. Später, nach aufgeheizten politischen Debatten, schnitten konservative Kinobesitzer diese Szene sogar eigenhändig heraus. Schade, dass das Filmarchiv nur über eine solche Kopie verfügt.

(Axel Matthies)

vom: 06.09.2020