Wolf R. Eisentraut und seine Bauten in Marzahn

Der Vortrag am 21. Oktober 2020 gemeinsam mit der Volkshochschule Marzahn-Hellersdorf im Schloss Biesdorf war einem Dauerbrenner der Diskussionen zur DDR-Geschichte gewidmet:

„Architektur zwischen Individualität und Typenbau. Gewolltes, Gelungenes, Gescheitertes“.

Referent war kein Geringerer als Prof. Wolf R. Eisentraut, einer der wichtigsten Architekten in der damaligen Hauptstadt und des gesamten Landes. Eisentraut, der jetzt 77 Jahre alt ist, zog damit auch Bilanz seines Lebens. Er hat inzwischen genauso lange in der DDR gebaut wie im vereinigten Deutschland. Wer, wenn nicht er, kann sich ein Urteil erlauben.

Prof. Eisentraut konzentrierte sich in seinem bildgestützten Vortrag auf seine Arbeiten in Berlin-Marzahn. Im damaligen VEB Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau (IHB) entwickelte und baute er die Häuser als verantwortlicher Architekt in den Jahren zwischen 1973 und 1988.

Prof. Wolf R. Eisentraut im Heino-Schmieden-Saal

Der Vortragende eröffnete seine Erinnerungen mit dem Jahr 1955: in diesem Jahr sei in der DDR mit dem industrialisierten Wohnungsbau begonnen worden. Drei einfache Haustypen – flach, mittel, hoch – seien dafür konstituiert worden, die in ebenfalls typisierten Baufeldern angeordnet wurden. Hinzu seien konische Elemente gekommen. Eisentraut bekannte sich „mitschuldig“ an der Wohnungsbauserie (WBS) 70, Typ Neubrandenburg. Dieser Typ, mit kleinen Fenstern im Treppenhaus, sei in der DDR millionenfach eingesetzt worden.

Hier dargestellt als QP Berlin

Als Anekdote steuerte er hier bei, dass von den zweiteiligen Fenstern in der Regel nur der kleine Flügel geöffnet worden sei; unter dem großen Flügel habe aus platztechnischen Gründen in der jeweiligen Wohnung immer das Ehebett gestanden.

Wolf R. Eisentraut erläuterte die Grundprinzipien des industriellen Bauens. Wesentlich sei dabei gewesen, dass alle Häuser – sowohl die typisierten Wohnbauten als auch die Geselschaftsbauten – aus den vorhandenen Elementen, wie sie in den Vorfertigungsstätten (Plattenwerken) massenhaft produziert wurden, zu konstruieren gewesen wären. Ausnahmen gab es nur wenige. Für Architekten war das von vornherein eine gewaltige Einschränkung, aber auch eine Herausforderung ohnegleichen. Wie er sie lösen konnte, bewies er an einem Schulbau für körperbehinderte Schüler in der Lichtenberger Paul-Junius-Straße.

Schule in Lichtenberg. Bei ihrer aufwändigen Sanierung, die unlängst erfolgreich abgeschlossen wurde, sprachen Laien von einem „verschachtelten“ Bau. Bauexperten hingegen lobten die architektonische Ausstrahlung.

Sodann wandte sich Prof. Eisentraut seinen Gesellschaftsbauten in Marzahn zu. Er erläuterte seinen Entwurf für das Hauptzentrum, das zwischen Bahnhof und Freizeitforum gelegen ist.

Studie B für das Hauptzentrum (Abb. Eisentraut)

Vorab soll aber hier authentisch erinnert werden, wie Marzahn gesellschaftspolitisch geplant war. Im Jahre 1971 hatte der VIII. Parteitag der SED die „Politik der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ beschlossen, in deren Zentrum die Verbesserung der Wohnbedingungen der Werktätigen zur vordringlichen sozialen Aufgabe erklärt wurde. Der IX. Parteitag fünf Jahre später – er fand im Mai 1976 im neu errichteten Palast der Republik statt – stellte die „geschichtliche Aufgabe, die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 zu lösen“. Dabei wurde auf die Hauptstadt Berlin besonderes Augenmerk gelegt. Im Zentrum stand Marzahn.

Die frühen Jahre – Blick über den Springpfuhl auf die Häuser des Murtzaner Rings. Das Gebiet wurde ab 1977 tiefbautechnisch erschlossen, die ersten Häuser wurden bereits im selben Jahr übergeben. (Foto: Sibylle Bergemann 1980)


Es ging um die Versorgung der Berliner mit Wohnraum, aber auch um die Versorgung Zuziehender, die im wachsenden Staatsapparat sowie in neu errichteten bzw. stark erweiterten Industrieanlagen in Marzahn und Hohenschönhausen arbeiteten. Wir erinnern dabei an Betriebe wie: VEB Kombinat Kraftwerks- und Anlagenbau, VEB Kombinat Elektroprojekt und Anlagenbau Berlin, VEB Energiekombinat Berlin, VEB Berlin Kosmetik sowie die großen Baukombinate Wohnungsbaukombinat, Tiefbaukombinat und Ingenieurhochbau – fast alle versanken im Orkus der Treuhandanstalt. An dieser Stelle werfen wir einen Blick in die Zeitung vor 45 Jahren.

Berliner Zeitung vom 27./28. März 1976

Die „Berliner Zeitung“ berichtete über eine SED-Bezirksdelegiertenkonferenz Berlin, die im Frühjahr 1976 schier unglaubliche Ankündigungen machte – wir zitieren aus der Rede des damaligen 1. Sekretärs K. Naumann: „Durch Neubau und Modernisierung von 300.000 bis 330.000 Wohnungen in den nächsten 15 Jahren ist die Zahl der vorhandenen Wohnungen der Zahl der Haushalte anzunähern und bis 1990 das Wohnungsproblem so wie vorgesehen zu lösen… In Übereinstimmung mit den wachsenden Bedürfnissen der Werktätigen und den realen materiellen Möglichkeiten sind bis 1990 alle Wohnungen in einen guten baulichen Zustand zu versetzen. Sie sind mit Innentoilette sowie Bad oder Dusche und in der Mehrzahl mit modernen Heizungssystemen auszustatten.“ Diese Ankündigungen waren so traumhaft, für viele unglaublich, dass sie es sogar in einen Gassenhauer von Reinhard Lakomy schafften: „Bis 1990, so sagt die Partei, sind wir alle wohnraumsorgenfrei“.

Reinhard Lakomy und seine LP mit dem Titel „Das Haus, wo ich wohne“

Um so größer war der Druck für jene, die diese Pläne umsetzen mussten. Prof. Eisentraut stellte sich als verantwortlicher Architekt im IHB dieser Aufgabe. Seine Studien zeigen den architektonischen Anspruch. Im Vergleich zu heute gab es Wettbewerbe für höchstens drei Kollektive. Dabei stand immer das Primat des Pragmatischen und der niedrigen Kosten im Vordergrund. Wie oben angekündigt konzentrierte sich Prof. Eisentraut in seinen Ausführungen auf das Hauptzentrum Marzahns in der Streckung vom Bahnhof bis zum Freizeitforum Marzahn. An dieser Stelle einige Fotos aus dem historischen Fundus von Prof. Eisentraut.


Ursprüngliche Bebauung, Blick vom Bahnhof auf Post (li.) und Warenhaus (Abb. Eisentraut)


Dahinter Dienstleistungskomplex, dass. Innenansicht (Abb. Eisentraut)


Blick in ein Café in der Marzahner Promenade (Abb. Eisentraut)



Auf dieser Fläche fokussierte sich das städtische Leben. Im Gegensatz zum benachbarten Stadtteil Hellersdorf dominieren in Marzahn Geschossbauten mit 11 Etagen und mehr. Neben den zentralen singulären Bauten wie Warenhaus (mit Oberlicht!), Post und Dienstleistungskomplex sollten vor allem die sogenannten Funktionsunterlagerungen (also Geschäfte in den ursprünglich reinen Wohnbauten) für Attraktion sorgen. Zusätzlich waren dieser zentralen Achse zahlreiche Gaststätten unterschiedlichen Typs zugeordnet. Unter den Bedingungen des Handels in der DDR funktionierte das System vorzüglich; abgesehen davon, dass in den Geschäften immer etwas fehlte.

Wird heute kaum erinnert – Club Jasmin mit Glastanzfläche (Abb. Eisentraut)



Zur Erinnerung: Galerie M (Abb. Eisentraut)

Zudem erinnerte Wolf Eisentraut an die Gestaltung der Nebenzentren Helene-Weigel-Platz und Ringkolonnaden. Am Beispiel des Rathauses Marzahn zeigte Eisentraut beispielhaft die Improvisationen, die immer nötig waren. Um die vorgehängten Platten erlebbar zu machen, kooperierte er mit dem Klinkerwerk in Großräschen. Dieses Werk in der südlichen Lausitz mit langer Industriekulturtradition lieferte ausrangierte Ziegel, mit denen die Außenhaut des Rathauses gestaltet wurde. Eisentraut demonstrierte das mit den sichtbar unterschiedlich farbigen Ziegeln im Eingangsbereich.

Rathaus Marzahn. Auf der linken Seite die unterschiedlich gefärbten Ziegel, die als Ausschuss galten und so vom Architekten für eigene Zwecke genutzt werden konnten. (Abb. Eisentraut)

Die Ringkolonnaden, damals ergänzende Versorgungseinrichtung im Norden Marzahns und von preisgekrönter Gestaltung, wurden inzwischen abgerissen; das neu gebaute Plaza Marzahn übernahm deren Funktion. Die Galerie M von 1990, ein lichtdurchfluteter Kulturbau und Magnet der kunstinteressierten Anwohner, ließ die landeseigene degewo 2014 geräuschlos wegreißen. Begründung: in der technischen Unterhaltung zu kostspielig.

So neigte Prof. Eisentraut am Ende seines Vortrages zu Bitternis und zeigte ein Bild vom zerstörten Karthago. Ein nicht geringer Teil seines Werkes in Marzahn, vor allem sinnstiftende Gesellschaftsbauten, ist nach weniger als 30 Jahren abgetragen. Wer einen Blick in sein Werkverzeichnis wirft, stellt den Verlust schnell fest. Es sind zudem die damals beliebten und individuell ausgestalteten Clubgaststätten, die den unsubventionierten Betrieb nicht überlebten – sie wurden schnell abgerissen. Nun steht der Abriss des einzigen neu gebauten Kinos „Sojus“ am Helene-Weigel-Platz bevor. Dennoch hält er den Prozess der Bewertung des Wohnungs- und Gesellschaftsbaus in der DDR nicht für abgeschlossen, er bleibe in Bewegung. Selbst wenn man die gänzlich anderen Ansprüche der Gegenwart an die Präsentation von Waren berücksichtigt – der erste Satz in Marx‘ Kapital lautet: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform“ – bleibt seine Beurteilung der nachfolgenden Bebauung nicht unkritisch. So habe Eisentraut im Streit mit dem Investor ECE hinsichtlich der architektonischen Ausstrahlung auf das ursprüngliche Ensemble darauf hingewiesen, dass die Südflanke des Einkaufszentrums Eastgate sich gegenüber der Promenade als geschlossene Kulisse präsentiert und das Flanierinteresse gänzlich verhindere. Zudem hätte das Einkaufscenter der übrigen Marzahner Promenade das Wasser abgegraben, die Kaufkraft für weitere Geschäfte mit sonstigen Angeboten funktioniere nicht. Der fremde Besucher bemerke die Leere, aber nicht die Ursachen. So greift ein einzelner Bau anmaßend in ein komplettes Ensemble ein.

Die abweisende Seite des Einkaufscenters Eastgate (Abb. Eisentraut)

In der abschließenden kurzen Diskussionsrunde dominierten zwei Themen: zum einen die Ursachen und Beweggründe der neuen Besitzer für den Abriss der Häuser, zum anderen der Blick auf den komplexen Wohnungsbau in seiner Gesamtheit und das einzelne Haus als Dominante und Sinnstiftung. Prof. Eisentraut ist sich darüber im Klaren, dass der komplexe Wohnungsbau in seiner Einheit von Wohnungs- und Gesellschaftsbau, von verkehrlicher Erschließung und täglicher Versorgung ein besonderer Wert ist. Er wollte mit seiner Arbeit, mit dem einzelnen Haus, Lebensgefühl und Heimat schaffen, er wollte mit daran wirken, dass sich Städte entwickeln und mit ihren Bürgern wachsen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Prof. Eisentraut in einer Veranstaltung mit dem Heimatverein Marzahn-Hellersdorf folgende Formulierung getroffen:

„Die industrielle Bauweise ist keine abgeschlossene Epoche, in einer industrialisierten Gesellschaft ist sie vielmehr ein ganz normaler Teil; es kommt nur darauf an, die industrielle Bauweise so zu lenken, dass sie für die wirklichen Bedürnisse eingerichtet wird, dass sie nicht als Selbstzweck die Lösung diktiert, sondern dass in erster Linie die Frage steht: Welche Stadtentwicklung brauchen wir, was brauchen wir für die Menschen, die da wohnen? Danach haben sich die technischen Möglichkeiten zu richten, und die Architekten natürlich auch.“

Wer heute die Wohnkomplexe in Marzahn durchstreift, trifft auf funktionierende und vermietete Häuser, auf gepflegte und respektierte Freiflächen, auf Menschen, die sich wohlfühlen und Rücksicht nehmen. Die Häuser wurden technisch nachgerüstet und das Wohnumfeld aufgewertet. Der Stadtteil wird jetzt spürbar verdichtet, überall drehen sich Kräne, die Nachfrage nach Wohnraum ist ungebrochen. Freilich ist es nötig, die Hälfte der Neuvermietungen zu subventionieren. Marzahn ist, entgegen der Annahme vieler Unwissender, ein beliebter Wohnort für arbeiterlich geprägte Menschen, darunter verschiedene Nationalitäten vor allem aus Osteuropa. Die weiträumige Kulisse hat sich in pandemischen Zeiten durch unterdurchschnittliche Infizienz bewährt. Was Marzahn dennoch braucht, sind sinnstiftende Hauptgebäude, die seinen Bewohnern gerecht werden und dem Stadtteil als Kernmarke dienen. Da könnte Eisentraut Rat geben.

Die Neubaukomplexe in der DDR und den anderen Ländern des Staats-sozialismus, das sei abschließend bemerkt, unterliegen nicht den Kriterien der bürgerlichen Architekturkritik. Es ging hier niemals um das einzelne Haus und seinen Tauschwert, es ging immer um das Häuser-Ensemble in seiner Gebrauchs-wertigkeit. Hein Köster, der langjährige Redakteur der Zeitschrift „form + zweck“, auf deren Seiten über einige Jahre eine ernsthafte Debatte zur Formgestaltung im Sozialismus stattfand, formulierte diese Erwartung so: „Der Anspruch der Einfachheit ist perspektivisch, denn sein Pathos ist die soziale Egalité.“ Und Lothar Kühne, ein weiterer wichtiger Akteur dieser Debatte differenzierte: „Für die Faszination der Einfachheit des Praktischen ist noch kein dauerhaftes Organ gebildet.“ Dies wäre dann allerdings ein neuer Vortrag. Ein anregender Abend mit Wolf R. Eisentraut ging zu Ende.

(Axel Matthies)

vom: 17.11.2020