Wer Merseburg von früher kennt, wird die propere kleine Stadt an der Saale nicht wiedererkennen: die Altstadt ist saniert, der Schlossberg grüßt und es ist viel los auf den Straßen. Andererseits ist die Arbeit stiftende chemische Industrie von Buna und Leuna auf nüchterne Maße reduziert. Die Kaufkraft ist limitiert. Der demografische Wandel setzte in Merseburg schon 1981 ein: seitdem sank die Einwohnerzahl von 50.000 auf 35.000 jetzt, die Zahl ist stabil in den letzten drei Jahren. Eine Entwicklung also ähnlich wie in der Großsiedlung Marzahn. Die Hochschule Merseburg mit ihren 2700 Studierenden und 300 Mitarbeiter_Innen konsolidiert die Demografie. Die Stadt hat Geschäfte, Hotels und Restaurants. Ich landete ganz zufällig in einem kleinen Hotel, dessen Küche bereits vier Mal mit einer Kochmütze des Gault & Millau geehrt wurde. Aber die Stadt sucht nach Attraktionen, die den Tourismus ankurbeln. Die Nähe zur Romanischen Straße und zum vom Weinanbau geprägten Unstruttal reicht nicht aus. Deshalb war die Stadt gutgelaunt, als die Familie Sitte anbot, eine Galerie einzurichten und das in Familienbesitz befindliche Werk hier aufzubewahren.
Sanierte Altstadt
Die Willi-Sitte-Galerie wurde am 28. Februar 2006 in Anwesenheit des Bundeskanzlers a. D. Gerhard Schröder und des damaligen sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer feierlich eröffnet. Die deutsche Presse nahm daran großen Anteil. Der Tenor war überwiegend von Respekt geprägt. Der Eröffnung der Galerie anlässlich des 85. Geburtstages des Künstlers vorangegangen war die Peinlichkeit von Nürnberg. Sitte hatte mit dem Germanischen Museum zu seinem 80. Geburtstag im Jahre 2001 eine große Werkschau geplant, verbunden mit einem Vorlass der in seinem Besitze befindlichen Werke. Wegen fadenscheiniger politischer Verzögerungen seitens des Museums musste Willi Sitte diesem absagen und steuerte um.
Merseburg war hocherfreut und schnell bereit, einen Weg zu finden. Lotto Sachsen-Anhalt und die Kreissparkasse unterstützten das Projekt. Als Ort wurde die ehemalige Domkurie auf dem Schlossberg auserkoren. Die junge Architektin Claudia Janich, die in einem Merseburger Ingenieurbüro arbeitet, ging aus dem Architekturwettbewerb als Siegerin hervor. Sie sanierte und modernisierte das Gebäude für die ausgeschriebene Summe von zunächst 1,5 Millionen Euro. Fertig zu stellen war eine Bruttogeschossfläche von 550 Quadratmetern. Die Galerie wurde als Urban-21-Projekt mit Mitteln aus dem EFRE-Strukturfonds der EU und aus dem Förderprogramm Städtebaulicher Denkmalschutz realisiert. Abschließend wurden 2,6 Millionen Euro investiert. In den ersten beiden Jahren war der Besuch sehr hoch (Presseberichte sprechen von 30.000 Besucherinnen und Besuchern), dann ließ das Interesse nach. Jetzt hat sich nach Aussage der Galerie der Besuch bei 10.000 eingepegelt. Im Jahre 2009 stand die Galerie vor der Zahlungsunfähigkeit.
Willi-Sitte-Galerie
Betreiberkonzept und finanzielle Spielräume
Bei meinem Besuch hatte ich die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit der Museologin Sarah Rohrberg, der Tochter des Künstlers. Ich fasse ihre Ausführungen und zusätzliche Rechercheergebnisse zusammen: Galerie und Erweiterungsbau gehören der Stadt Merseburg, die sie der Willi-Sitte-Stiftung für Realistische Kunst kostenlos zur Verfügung stellt. Träger und Betreiber der Galerie ist der Förderkreis Willi-Sitte-Galerie e.V. Der Satzungszweck wird dadurch erfüllt, dass der Förderkreis Ausstellungen mit Werken der bildenden Kunst plant, organisiert und realisiert. Dabei finden regionale Bezüge und die Förderung Junger Kunst Berücksichtigung. Neben regelmäßigen Ausstellungen mit Werken von Willi Sitte gehören zum Galeriebetrieb auch die verschiedensten Veranstaltungen der kleinen Form wie Buchlesungen, Konzerte, Theateraufführungen und Kunstdiskussionen. Jährlich gibt es nur eine Ausstellung. Frau Rohrberg erklärte mir, mehr sei von einer Person nicht zu kuratieren. Allerdings wird die jeweilige Exposition von drei bis vier Ergänzungsausstellungen als regionale oder Junge Kunst flankiert, die im Kontext stehen. 2014 heißt die Ausstellung „Menschen Bilder“, sie wird ergänzt durch Werke von Hassan Haddad, Alexander Bär, Andreas Ohmeyer und Heidi Wagner-Kerkhof/Hannes H. Wagner. Die Willi-Sitte-Stiftung verfügt über ca. 260 Gemälde und 1000 Zeichnungen aus 60 Schaffensjahren. Weitere Bestände vor allem in Halle, Berlin, Leipzig und Dresden werden bei Bedarf abgerufen.
In der Galerie arbeiten zwei Festangestellte, darüber hinaus ist die Stiftung auf viel freiwilliges Engagement angewiesen. Bei Eintrittspreisen von 3,50 € und 2,50 € (ermäßigt) erwirtschaftet die Galerie Einnahmen von gut 30.000 €. Der Förderkreis wirbt kontinuierlich um Spenden. Es gibt mit anderen Einrichtungen, vor allem auf dem Schlossberg, Kombikarten, um Synergieeffekte zu erzielen. Ein Vergleich zum Bilderschloss Biesdorf sei hier angerissen: die beiden Betreiber-Bewerber rechnen mit jährlichen betrieblichen Nebenkosten von 130.000 Euro. Nach Biesdorf müssten also bei gleichen Preisen wie in Merseburg mindestens 40.000 Besucher jährlich kommen. Allerdings ist hier die Ausstellungsfläche drei Mal größer.
Bemerkungen zur Ausstellung „Menschen Bilder“
Wer das Werk von Willi Sitte nicht näher kennt, wird sich nur an die Bilder aus den 1970er und 1980er Jahren erinnern, als Sitte in der DDR als Künstler omnipräsent war. So etwa mit seinem Triptychon „Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und Freiheit“, das in dieser Ausstellung im Zentrum steht.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben…
Darüber hinaus gibt es Bilder zu sehen aus seiner frühen und späten Schaffensperiode, die bisher öffentlich nicht so im Fokus standen.
Willi Sitte hatte in seiner Jugend eine Ausbildung als Ornamentzeichner absolviert. Danach war er ein Jahr auf einer Malerschule, ehe er in den Krieg geschickt wurde. Von der Ostfront kam er 1944 nach Italien, wo er mit Partisanen kooperierte und desertierte. Nach Kriegsende blieb er in Oberitalien und studierte italienische Malerei vor Ort. Ein Jahr später rief ihn die Familie zurück nach Nordböhmen: sie musste umsiedeln und kam nach Halle. In Halle traf er auf eine rege Künstlerkolonie und entwickelte seinen Malstil, der sich an Picasso und Fernand Léger orientierte. In den Kunstdebatten der frühen DDR gehörte er zu den Modernisten und wurde kritisiert. So schrieb der damalige 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle der SED im Dezember 1962 im ND: „Tatsächlich aber sind mit Recht auch einige Bilder Hallescher Künstler wie von Sitte, Enge und anderen von der Jury zurückgestellt worden, weil sie sich in starkem Maße von der realistischen Kunst entfernten und mit den Mitteln des Modernismus das Menschenbild entstellten. Was für ein hervorragender Künstler könnte Genosse Sitte sein, wenn er sich konsequent für den sozialistischen Realismus entscheiden könnte.“ (zit. nach: Hermann Raum, Bildende Kunst in der DDR, Berlin 2000, S. 108 – 109) Kurze Zeit später hatten sich die Kunstansichten auf beiden Seiten angenähert und Sitte begann seine Karriere. Als Beispiel aus seinem Frühwerk sei hier eine Illustration zu Majakowskis Gedicht „Die auf Sitzungen Versessenen“ gezeigt. Sitte war auch ein Filou.
Im Ausstellungsflyer hatte sich Willi Sitte über seine Menschen-Bilder geäußert: „Andere teilen mit Stillleben oder Landschaft ihre Haltung zur Welt mit, für mich erhielt der Akt (die menschliche Figur) diese Bedeutung. Ich habe mit diesem Gegenstand gesucht, geforscht und experimentiert, um mich zu den Weltereignissen über mein eigenes persönliches Empfinden hinaus äußern zu können.“ Sitte bezeichnete sich selbst als Kommunist, sein Großvater und sein Vater seien nach dem 1. Weltkrieg in Nordböhmen wesentlich an der Gründung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei beteiligt gewesen. Mit dem Ende der DDR setzte ein gewaltiger Schmäh gegen den Künstler und Verbandsfunktionär ein – seine Klassen-Bilder, seine Arbeiter-Bilder und seine Epochen-Bilder wurden in der Luft zerrissen. Sitte wurde zum Idealtypus des „Staatskünstlers“ erhoben. Er kommentierte spitz: „Ich wusste nicht, dass ich der Verbandspräsident von Widerstandskämpfern war.“
Er arbeitete weiter und sein Alterswerk ist bemerkenswert. Seine Bilder sind wieder übersichtlich und verständlich: der einzelne Mensch muss sich in gesellschaftlichen Verhältnissen bewähren, er verliert auch und resigniert. Und er hebt erneut den Kopf. Lothar Lang, einer der wichtigsten Kenner und Kritiker der bildenden Kunst in der DDR, hat das Werk Sittes achtungsvoll resümiert: „Sein Werk polarisiert: politisches Pathos und antiimperialistisches Klassenkämpfertum in den Programmbildern des sozialistischen Realismus einerseits und Besessensein vom nackten Körper, gemalte Leibeslust als psychologisch bedingte Obsession andererseits. Hier ist Sittes Januskopf, sein Selbstwiderspruch, der Faszination und Konflikt gleichsam provozierte.“ (Lothar Lang, Malerei und Graphik in Ostdeutschland, Leipzig 2002 , S. 117)
Willi Sittes Werk ist am Kunstmarkt präsent. Insbesondere sein graphisches und zeichnerisches Werk, hier insbesondere das erotische, ist begehrt. Er war ein sehr großer Zeichner. Und er ist kein toter Hund.
Für Arbeiter, Schwimmer und Nackte hat sich ein Traum erfüllt, den der Volksmund stets bestritt:
Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt.
Giebelbild am Bahnhof (nicht von Sitte!)
Saale unterhalb der Galerie
(Axel Matthies)