Erhellende Blicke in das Leben unserer Abgeordneten

In unserer Veranstaltungsreihe BIESDORFER BEGEGNUNG fand am 23. September 2020 im Schloss Biesdorf eine Podiumsdiskussion zum Thema „Lust und Frust des Abgeordnetenlebens“ statt. Unser Vorstandsvorsitzender Dr. Heinrich Niemann, der die Veranstaltung moderierte, konnte als Gäste begrüßen:

Christian Gräff (CDU), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (MdA) seit 2016, in den Jahren 2006 bis 2016 Bezirksstadtrat in Marzahn-Hellersdorf,
Dr. Günter Krug (SPD), Bezirksverordneter seit 2019 in der BVV Marzahn-Hellersdorf, von 2001 bis 2011 MdA, Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates
Udo Wolf (Die Linke), MdA seit 2001, in den Jahren 2009 bis 2020 Vorsitzender der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus (AGH),
Stefan Ziller (Bündnis 90/Die Grünen), MdA von 2006 bis 2011 und erneut seit 2016.

Die Parlamentarier von links: Wolf, Krug, Ziller und Gräff (Foto: C. Dressel)


Lust am Abgeordnetenleben empfinden alle vier Gesprächspartner, weil sie sich aus eigenen Stücken für diese Tätigkeit entschieden haben. Frust resultiert bisweilen aus vorgegebenen Anforderungen der Aufgaben, die ihnen übertragen wurden. In welchem Verhältnis Lust und Frust stehen hänge auch davon ab, wie engagiert der Abgeordnete sein Mandat wahrnimmt und wie hoch der eigene Arbeitsaufwand ist, weil andere nicht in gleichem Maße mit ziehen.

Ausführlich schilderten die Gesprächspartner ihren Arbeitsalltag als Abgeordnete:
Plenarsitzungen, Fraktionssitzungen, Beratungen in Ausschüssen, Kontaktpflege im Wahlkreis, Wahrnehmung von Fachaufgaben, Aktivitäten in der eigenen Partei, Hintergrundgespräche mit Journalisten.
Ergänzend berichtete Herr Wolf, welche Aufgaben ein Fraktionsvorsitzender zusätzlich wahrnehmen muss: Abstimmungen in der Koalitionsrunde, Teilnahme an Senatssitzungen und Staatssekretärkonferenzen.
Die Mitglieder des Abgeordnetenhauses sind Hauptzeit-Parlamentarier, die ca. 80 Stunden/Woche (Koalition) bzw. ca. 70 Stunden/Woche (Opposition) für ihre Tätigkeit aufwenden. Für die Familie bleibt wenig Zeit. Auf Anfrage informierten die Abgeordneten über ihre Vergütung.

Die Arbeit in der BVV eines Berliner Bezirkes ist dagegen ehrenamtlich; die Verordneten sind berufstätig. Sie erhalten eine Aufwandsentschädigung. In Beantwortung der Frage, welche Quellen Abgeordnete nutzen, um sich das notwendige Wissen für ihre Tätigkeit anzueignen, wurden genannt: Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern, Kontakte mit gesellschaftlichen Gruppen (Unternehmen, Organisationen, Verbände), wissenschaftliche Mitarbeiter und Dienste. Schon bei der Kandidatenaufstellung für die Wahlen berücksichtigen die Parteien die vorhandene Fachkompetenz. Für eine erfolgreiche Tätigkeit ist wichtig, dass der Abgeordnete lernt, wen er fragen kann und welche Fragen er stellen muss.


In der Diskussion wurde deutlich, dass AGH und BVV unterschiedliche rechtssetzende Funktionen haben. In diesem Sinne ist die BVV kein gesetzgebendes Parlament, hat neben der Kontrolle der Tätigkeit des Bezirksamtes aber rechtsverbindliche regulierende Funktionen bei der Festsetzung des Haushaltes. Die Festsetzung von Bebauungsplänen ist eine der wenigen Rechtsakte der BVV.
Herr Gräff erklärte auf Nachfrage, dass seine Tätigkeit im BER-Untersuchungsausschuss zu 80% Frust und 20% Lust sei, letzteres insbesondere aus der Sicht, dass man auch Neues lernt. Die aktuell in der Presse wieder aufgekommene Diskussion um die TVO, der seit Längerem diskutierten Straßenverbindung zwischen Marzahn und Köpenick, bereite ihm keinen Frust, weil es den Planfeststellungsbeschluss 2021 geben wird.

Auf der langen Bank? Die TVO mit ihren Korridoren
(Grafik: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt)


Von den Gästen wurde die Frage gestellt, warum so lange über Veränderungen diskutiert wird und sich dann doch wenig oder gar nichts ändert. Die Abgeordneten bestätigten, dass es tatsächlich Streit in der Koalition und mit der Opposition gibt, der dem gültigen Demokratieverständnis entspringt. Wenn dann eine Entscheidung getroffen ist, müssen Probleme bei der Umsetzung gelöst werden. Und nicht alles kann umgesetzt werden. Herr Gräff hob in diesem Zusammenhang hervor, dass sich die Dinge auf Landesebene schwieriger gestalten als auf Bezirksebene.

Parlamentsferien, machten die Gesprächspartner abschließend deutlich, seien nicht nur Urlaub, sondern eher Zeit zum Nachdenken, zur Aufbereitung von Geleistetem und zur Kontaktpflege.
Die Frage nach einer Begrenzung der Dauer der Abgeordnetentätigkeit auf zwei Legislaturperioden wurde nicht von allen Gesprächsteilnehmern mit einem grundsätzlichen Ja beantwortet. Es wurde darauf unter anderem hingewiesen, dass ein Abgeordneter erst nach zwei Wahlperioden über den erforderlichen Sachverstand verfügt. Zudem nehme in den Parteien die Zahl der Mitglieder ab, die Lust auf eine Tätigkeit in der Politik haben.

Zwei intensive Stunden des Zuhörens und Diskutierens brachten interessante Informationen und neue Einblicke für die Teilnehmer im bis auf den letzten (coronabedingt zugelassenen) Platz gefüllten Heino-Schmieden-Saal.

Luftige Coronakulisse im Heino-Schmieden-Saal (Foto: C. Dressel)


Die nächste BIESDORFER BEGEGNUNG am 26. November hat zum Thema:

„Journalismus heute – was kann, was soll, was muss er?!“

Unter den eingeladenen Journalisten werden Chefredakteure Berliner Zeitungen sein.


(Prof. Dr. Gernot Zellmer)

vom: 06.10.2020