von Klaus Hammer
Von 1952 bis zu seinem Tod 1967 lebte er im Berliner Stadtteil Biesdorf, in der heutigen Otto-Nagel-Straße. Die Ehrenbürgerschaft, die ihm der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung von Ostberlin posthum verliehen, wurde nach der Vereinigung übernommen. Vor sechs Jahren hat in Zusammenarbeit mit dem Otto Nagel Archiv das Käthe-Kollwitz-Museum Berlin dem mit dessen Namenspatronin befreundeten Malerkollegen eine schöne Werkauswahl seiner Berliner Bilder von den Endzwanziger- bis in die Endvierzigerjahre gewidmet. Die kleine Gemälde-Schau aus dem Bestand der Kunstsammlung der Akademie der Künste wurde 2012 noch im Schloss Biesdorf gezeigt und ist die letzte Personalausstellung des Berliner Künstlers geblieben. Zu seinem 50. Todestag wird es keine geben.
Das alte, heimliche, dem Untergang geweihte Berlin
1934 war dem in den Mietskasernen des Wedding aufgewachsenen Arbeitermaler – er war Autodidakt, ihm wiesen Heinrich Zille und Käthe Kollwitz seine Richtung – von den Nationalsozialisten das Verbot erteilt worden, weiterhin im Atelier zu malen. Daraufhin zog er mit seinem Pastellkasten auf die Straße und erklärte Berlin zu seinem „Freilichtatelier“. Ihn interessierte nicht das repräsentative Berlin, der Kurfürstendamm oder Unter den Linden und das Brandenburger Tor, sondern das alte, heimliche, dem Untergang geweihte Berlin, die stillen Ecken und Winkel, die Hinterhöfe und Grachten, Kneipen, Parkbänke und Buddelkästen. Otto Nagel arbeitete mitunter im Wettlauf mit den Bombenangriffen, denn Tage oder auch nur Stunden später waren nur noch Ruinen übrig. Mitten in der Zeit der Zerstörung diente sein Werk der Erhaltung: Das Bedrohte und Vernichtete durfte nicht gänzlich verloren gehen. Das zerstörte Alt-Berlin sollte in seinen Bildern gerettet, unverlierbar gemacht werden. Mit dem Berlin der Sperlingsgasse, des Mühlendamms, der Friedrichsgracht, der Schornsteinfegergasse, durch den Krieg oder die Abrissbirne dem Erdboden gleich gemacht, hat er einzigartige Dokumente von künstlerischem wie kulturgeschichtlichem Wert geschaffen.
Otto Nagel, Friedrichsgracht. 1942
Trotz protokollarischer Schärfe entdeckte Nagel in seiner „sozialen Topografie“ Berlins verborgene Schönheiten, leise, diskrete Bildelemente. Die Farbe ist weder rauschhaft noch explosiv, sondern unauffällig, auf einen gemischten Grundton abgestimmt – adäquat dem bedrückenden Alltag: ein dumpfes Grau und düsteres Umbra, ein getrübtes Ocker, fahles Englischrot oder verwischtes Grün, ein gedämpftes Pariserblau. Und zugleich mit einem leisen Anflug von Wehmut und Resignation …
Der wohl bedeutendste proletarische Maler im 20. Jahrhundert
Aber Otto Nagel war nicht nur der Maler Berlins – er war viel mehr. Er ist der wohl bedeutendste proletarische Maler im 20. Jahrhundert. Seit den 1920er Jahren stand er für soziales Engagement, und er suchte Gestalt und Psyche des Menschen realistisch vielschichtig zu deuten. Bei ihm trat der Arbeiter nicht als amorphe Masse, sondern als individuell geformte Persönlichkeit hervor, in der sich zugleich ein Massenschicksal spiegelte. Im Arbeiterbildnis gelang es ihm, Elemente neuer geistiger Beziehungen zur sozialen Umwelt erlebbar zu machen. Mit wissenden Augen schaut „Lotte mit Puppe“ (1921) – es ist Nagels Tochter – den Betrachter an. Dieses proletarische Kind hat Spielen nicht gelernt, wie einen Fremdkörper hält es die Puppe in der Hand. „Parkbank am Wedding“ (1927) ist das einzig erhaltene Gemälde aus dem Bilderzyklus „Aus dem Leben eines Großstadtmenschen“: Fast alle Farben sind mit einem stumpfen Grau gebrochen, aus der bedrückenden, bleiernen Umgebung heben sich die bleichen Gesichter der alten Menschen ab, die dasitzen – jeder allein mit seinem Elend, in seiner Verlorenheit und doch durch das gleiche Schicksal miteinander verbunden.
Otto Nagel, Parkbank vor dem Altenheim
Das Sammelbild „Weddingkneipe“ (1927) vereint neun Einzelporträts, acht Gäste einer Budike am Wedding, gruppiert um den Wirt. Es ähnelt einem Altarbild: Die von einem harten Leben geprägten oder zermürbten Menschen sind wie heilige Märtyrer dargestellt. In düsteren erdigen Farben ist dann wieder „Frühschicht“ (1930) gemalt und vermittelt eine Atmosphäre der Bedrückung und Hoffnungslosigkeit. „Jungkommunist“ (1930/31), ein Einzelporträt aus der „Weddinger Familie“, demonstriert kämpferische Entschlossenheit; der Dargestellte ist ein Arbeiter-Typus, psychologisch und soziologisch verortet, und deutet zugleich einen gesellschaftlichen Hintergrund von politischer Aktualität an. 1934 schließlich entstand das würdevolle Bildnis des Waldarbeiters Scharf, in das alle bisher gesammelten Erfahrungen des Nagelschen Porträtschaffens eingeflossen zu sein scheinen. In die feiertägliche Ausnahmesituation des 70. Geburtstages ist das ganze zurückliegende Leben des Waldarbeiters mit einbezogen.
Otto Nagel, Der 70. Geburtstag des Waldarbeiters Scharf
Anreger für jüngere Künstler
Nach 1945 gehörte Otto Nagel zu jener alten Realisten-Generation, die, geschult an der Malerei Max Liebermanns, im Osten Deutschlands in der Entdeckung der neuen Wirklichkeit zu Anregern für jüngere Künstler wurden. Er übte schon durch seine Tätigkeit an der Akademie der Künste beträchtlichen Einfluss aus. Seine Meisterschüler waren Horst Bartsch, Dietrich Kaufmann, Harald Metzkes, Ronald Paris, Rolf Schubert, die dann ihre eigenen Wege gehen sollten. Denn Ende der 50er Jahre trat schon eine zweite Generation hervor, die sich kräftig und unübersehbar zu Wort meldete und die zu einer Erneuerung der Kunst beigetragen hat. Mit seinen Porträts, darunter seinen Selbstporträts von 1949 und 1963, den Trümmerfrauen-Blättern von 1947, den Berlin-Arbeiten von 1 954 und den Fischerkiez-Pastellen von 1965 hat aber Nagel selbst Höhepunkte in der realistischen Nachkriegskunst geschaffen. Mit seinen Selbstporträts, in denen er seine Kunst kontinuierlich weiter entwickelte, kann er sich überdies in die Reihe großer Meister des 20. Jahrhunderts wie Max Beckmann, Lovis Corinth, Otto Dix, Käthe Kollwitz und Paula Modersohn-Becker einordnen. Schon im ersten Selbstbildnis mit Hut (1919), die Proletarierwohnung im Hintergrund, erreicht er mit seiner lapidaren Formensprache eine Tiefe des Ausdrucks. Hier tritt der Arbeiter – mit fragend-forderndem Blick – als Individuum und Künstler erstmals in die Malerei ein.
Otto Nagel, Selbstbildnis mit Hut
Das Selbstporträt von 1934 ist ein leidenschaftlicher Protest: Der Künstler setzt sich über das von den Nazis verhängte Malverbot hinweg; trotz Haussuchungen und Inhaftierungen erscheint hier das Malen – er hat das Malwerkzeug neben sich – wie ein Akt innerer Befreiung. Sein „Selbstbildnis“ (1949) – mit konzentriertem, kritisch prüfendem Blick sitzt der Maler, die Palette in der einen, den Pinsel in der anderen, erhobenen Hand, vor der unsichtbaren Staffelei – spiegelt eine andere Art von Befreiung wider – die, endlich wieder frei malen zu dürfen. Hingabe, Selbstprüfung, Zweifel, Selbstbestätigung und erneuter Zweifel kommen hier zusammen. „Der alte Maler“ (1963) hat er dann das letzte Selbstporträt genannt, verloren blickt der Maler an seinem noch unfertigen Bild vorbei ins Unbestimmte, weise Gelassenheit und leise Müdigkeit des Alters liegen über seinem Antlitz.
Otto Nagel, Der alte Maler
Am 12. Juli ist Otto Nagels 50. Todestag. Er verkörpert die ungewöhnliche Symbiose eines engagierten proletarischen Malers und eines Klassikers des Realismus.
Publikation mit freundlicher Genehmigung von „Das Blättchen“ – http://das-blaettchen.de/
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