Den Vortrag in der Reihe zum Wiederaufbau des Schlosses Biesdorf am 13. April hatte der Kunstwissenschaftler Martin Schönfeld unter den spektakulären Titel „Vom Ende der Ideologie zum Triumph der Kunst“ gestellt. Er schloss sich mit dieser Sichtweise anderen, meist jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an, die sich in den letzten Jahren von der dominanten kulturpolitischen Sichtweise („Staatskunst“) verabschiedet haben und nun eine ikonografische Betrachtung der Kunstwerke bevorzugen – so wie es in der Kunstkritik gebräuchlich ist. Wir werden über diese Versuche berichten. Gegenstand seiner Analyse waren Kunstwerke im gebauten Raum von Marzahn-Hellersdorf.
Konzeptionell orientierte Martin Schönfeld sich nach dem „Ende der Ideologie“ an den ikonografischen Begriffen
Formgebung
Abstraktion
Gesellschaftskritik und
Subversion.
Für seine Interpretation hatte er überwiegend bekannte, noch heute im Stadtraum vorhandene Kunstwerke ausgewählt.
Zentrale Kunstwerke
Zunächst ging er auf zentral installierte Kunstwerke in der Marzahner Promenade ein: die Wandbilder Walter Womackas, das Bauarbeiter-Denkmal von Hillert/Möpert und die dreigliedrige Plastikgruppe von Ingeborg Hunzinger am Freizeit-Forum Marzahn. Martin Schönfeld erinnerte daran, dass für die Kunstwerke im komplexen Wohnungsbau vor allem Künstler beteiligt werden sollten, die nicht unbedingt im Mittelpunkt standen – also auch staatliche Aufträge für einen finanziell gesicherten Lebensabschnitt erhalten sollten. Ebenso war vereinbart, die Landschaft in den Mittelpunkt zu stellen, dazu die Orientierung in den Siedlungen mit geeigneten Stadtmöbeln in den Fokus zu nehmen und schließlich bildende Kunst insbesondere am Bau zu installieren.
Walter Womacka hatte 1964 den Fries für das Haus des Lehrers am neu gestalteten Alexanderplatz geliefert. Dessen Dimension von 130 mal 7 Meter war gigantisch und erinnerte an große Werke der mexikanischen Revolutionsmalerei.
Interessant: die Beschreibung der Fries-Produktion
In Mexiko, wo der „Muralismo“ (bedeutet Wandmalerei, hat nichts mit Moral zu tun) zu Hause war und Orozco, Rivera und Siqueiros eine Reihe berühmter Wandgemälde geschaffen hatten, kannte man bald diese Arbeit. In der Folge realisierte Womacka in einer Reihe anderer Städte, z.B. Halle-Neustadt und Eisenhüttenstadt, ähnliche gigantische Projekte. So bekam am Ende auch Berlin-Marzahn zwei Giebelbilder: „Arbeit für das Glück des Menschen“ und „Frieden“. Neben dem ikonografischen Wert erinnerte Martin Schönfeld auch an die enorm aufwändige Produktion dieser beiden Wandbilder im VEB Stuck und Naturstein. Beide Giebelbilder verschlangen wohl eine mittlere sechsstellige Summe in Mark der DDR.
Walter Womacka, Arbeit für das Glück des Menschen, 1989
Diego Rivera, Der Mensch am Scheideweg/Der Mensch kontrolliert das Universum, 1934
Die „Bauarbeiter“ von Karl Hillert und Karl-Günter Möpert sind schon öfter, auch hier, interpretiert worden. Standen sie ursprünglich am Anfang der Marzahner Promenade, am damaligen Warenhaus, sind sie nun in das Zentrum der Marzahner Promenade gerückt und fühlen sich da wohl. Wie sie da cool das Markttreiben über sich ergehen lassen, passt ganz zu ihrer Haltung. Martin Schönfeld sieht in der Arbeit eine Nähe zu Alberto Giacometti, einem Schweizer Künstler. Giacometti kam von der Malerei zur Bildhauerei. Den Bildhauer habe nicht das Volumen und auch nicht die Ausformung der einzelnen Partien interessiert, so ein Kritiker. Die Figur habe er auf ihre entfernte Erscheinung, auf ihre Haltung und Bewegung reduziert. Eine Nähe zwischen Giacometti und Hillert/Möpert ist jedenfalls erkennbar.
Alberto Giacometti, Eli Lotar III Alberto Giacometti, Walking Man
Schließlich erinnerte Martin Schönfeld an die Aufstellung der Figurengruppe „Denkmal für Kommunisten und antifaschistische Widerstandskämpfer“ von Ingeborg Hunzinger im Jahr 1991. In jener Zeit war Kommunist ein Unwort und die Bilderstürmerei gerade auf dem Höhepunkt. Die Bildhauerin argumentierte hingegen, sie habe nicht ein übliches Antifa-Denkmal errichten wollen, sondern eine Metapher schaffen für alle Menschen, die seit Jahrtausenden leiden und unterdrückt werden. Mit dieser Argumentation konnte sie sich durchsetzen. So steht dieses starke Kunstwerk heute in zentraler Position am Freizeitforum. Im Sommer dieses Jahres wird auf Initiative unseres Vereins eine eingelassene Platte an diese große Künstlerin erinnern.
Im Folgenden rief Martin Schönfeld verschiedene Künstler_innen auf, an denen er die Einbettung der Kunst im komplexen Wohnungsbau in die internationale Kunst deutlich machte.
Formgebung
Für Formgebung steht Gertraude Pohl. Die Künstlerin (*1940) hat insgesamt sieben Eingängen an Kinderkombinationen ein Gesicht gegeben. Dies war damals sehr wichtig, denn Kinderkombinationen sahen im gleichen Wohngebiet im Prinzip identisch aus. So war der individuelle Eingang sehr wichtig, damit Kinder und Eltern ihre Kiko erkannten.
Die Künstlerin arbeitete dabei überwiegend mit Betonformsteinen, die im VEB Werkstein Müggelheim in sehr individuellen Formen hergestellt wurden und von der Künstlerin dann zu Bildnissen zusammengesetzt wurden. Auch der ehemalige VEB Stern-Radio erhielt von der Künstlerin eine künstlerische Emaille-Ausgestaltung.
Gertraude Pohl, Kinderkombination
Gertraude Pohl, Eingang am ehemaligen VEB Stern-Radio
Martin Schönfeld sieht bei der Künstlerin eine Nähe zur Popart. Popart wird häufig als Reaktion auf eine betont intellektuelle abstrakte Kunst charakterisiert, die sich dem Trivialen zuwendet. Der Popkünstler fordert die absolute Realität, das heißt, dass alle Elemente rein, klar definierbare Gegenstands-Elemente sein müssen. Oft sind die dargestellten Gegenstände wie in einem Plakat ohne Tiefe, also flächig gestaltet. Banale Gegenstände des Alltags werden isoliert und entweder allein oder in Collagen verfremdet und verarbeitet.
Beispiele aus der Popart
Gertraude Pohl selbst bezeichnet diesen Teil ihrer Kunst als Farbdesign.
Abstraktion
Für Abstraktion stehen die Künstler Siegfried Schütze/Bernd Martin, die die Erstgestaltung des heutigen Jugendklubs „Wurzel“ an der Dessauer Straße realisierten. Von dieser Erstgestaltung stehen uns keine Fotos zur Verfügung. Die Gestaltung orientierte sich am Bauhaus Dessau. Die Außenwände des Flachbaus wurden mit abstrakten Farbformvariationen in den Primärfarben Gelb, Rot und Blau gestaltet. Farbliche Abstufungen schufen räumlich wirkende Farbfelder, die von diagonalen oder geschwungenen Formen durchschnitten wurden. Anstelle der Originalarbeit zeigen wir zwei Bauhaus-Arbeiten.
Joseph Albers, Aufwärts. Plakat
Franz Ehrlich, Architekturentwurf mit Wandgestaltung. Poster
Die Originalgestaltung verschwand bei der ersten Sanierung des Jugendklubs. Nach meiner Erinnerung war sie nicht übermäßig beliebt. Sie war den meisten Jugendlichen zu dunkel.
Gesellschaftskritik
Unter Gesellschaftskritik subsummierte Martin Schönfeld die fünfköpfige Figurengruppe von Rolf Biebl (*1951) am Helene-Weigel-Platz, den „Brunnen der Generationen“. Zumindest war es eine schroffe Anmutung für die Anwohner. Aber die Aufstellung im Jahre 1990 war kein Erdbeben mehr. Keine Presse beurteilte die Figuren, die Menschen waren bereits mit anderen Fragen und Problemen konfrontiert. Diese Kunst erschien schon eher als ein Bote der neuen Zeit.
Rolf Biebl, Brunnen der Generationen. Familie und Alter
Rolf Biebl, Brunnen der Generationen. Motorrad und enteilender Fahrer
Inzwischen ist die Gruppe auf dem Platz und bei den Menschen angekommen. Kinder spielen unbefangen vor allem mit dem Motorrad. Schönfeld sieht Biebls Gestalten: Familie, dahinter ein älterer, erfahrener Mann sowie Biker mit Motorrad in der Linie des Verismus. Verismus (ital.: verismo=der Wahrheit verpflichtet) ist im deutschsprachigen Raum als Neue Sachlichkeit bekannt. Eine Kunstrichtung, die nach dem 1. Weltkrieg vor allem aus dem Expressionismus kommend eine einzigartige Anklage der Kriegsgräuel war und sich dann als spezifische sozialkritische, detailgenaue und dingliche Darstellung ohne Sentimentalitäten profilierte. Zu den großen Vertretern zählen Otto Dix und George Grosz, sodann Franz Radziwill, Richard Oelze und Carl Grossberg.
Otto Dix, Flandern
Kurt Querner, Demonstration
Biebl war seit seinem Studium an der Kunsthochschule in Weißensee mit Clemens Gröszer und Harald K. Schulze befreundet. Später gründeten sie mit ein wenig Gedöns die Künstlergruppe Neon Real. „Die Drei sahen sich von Anfang an außerstande, vom Menschenbild abzusehen. Aber so ganz anders, als irgendeine ideologische Doktrin es vorschrieb, eher als lustvolle, virtuose Provokation“ , formulierte die Kunstkritikerin Ingeborg Ruthe. Und weiter zu Biebl: „Er belädt seine Bronzen, Gipse, Steine, Holzskulpturen mit all den Verformungen, die einem widerfahren können. Es sind Wesen, wie von der Last der Vergangenheit und der Gegenwart, von Anpassungszwängen und Resignation oder aggressiver Wut bedrückt und verformt.“
Martin Schönfeld interpretierte die Gruppe am Helene-Weigel-Platz als eine nach dem Wert des Lebens in der modernen Gesellschaft fragende, die im Kontrast zum Ideal der glücklichen Familien stehe.
Von Rolf Biebl gibt es in Berlin u.a. noch zwei recht bekannte Skulpturen.
Rolf Biebl, Rosa Luxemburg. Am nd-Gebäude Friedrichshain
Rolf Biebl, Der Schreitende. U Vinetastraße
Subversion
Subversion bedeutet wörtlich Umsturz, Zerstörung und ist von der etymologischen Bedeutung her verzahnt mit der Zerstörung einer staatlichen Ordnung. Den Begriff der Subversion wollte Martin Schönfeld schon verwenden bei der Bewertung der Gestaltung der Eingänge einer Kinderkombination am Parsteiner Ring in Marzahn Ost durch Mark Lammert (*1960). Lammert galt als hochtalentierter Student in Weißensee und lieferte seine Arbeit 1985 ab, also im Alter von 25 Jahren. Titel seiner Gestaltung ist „Zirkus“. Er malte aber nicht den bunten, prallen und lustigen Zirkus sondern den des traurigen Clowns. Seine Gestaltung, so Schönfeld, sei in ausdrucksstarken Formen und gebrochenen Farbtönen erfolgt. Seine Bilder seien voll von politischen Anspielungen. Proteste wurden schnell erhoben. So schrieb die Leiterin der Kinderkombination auch im Namen der Eltern, dass diese Ausgestaltung „grau“ und mit „verzerrten Gesichtern“ sei und den Kindern nicht gut tue. Es kam allerdings zu keiner Bilderstürmerei. Die Bilder blieben bis 1990, sollen dann allerdings sehr schnell übermalt worden sein. Wir können diese Bilder leider nicht zeigen.
Mark Lammert ist heute ein anerkannter Künstler. Er ist Professor für Malen und Zeichnen an der Universität der Künste. Er hat für Heiner Müller und Dimiter Gotscheff Szenenbilder geschaffen. Er ist Träger des Käthe-Kollwitz-Preises der Akademie der Künste. Seine Kunst ist anerkannt und in Galerien präsent.
Im Nachhinein würde ich diese Arbeit und eine weitere aus dem Jahre 1987 an einer Kinderkombination in der Mehrower Allee als „Thema verfehlt“ einstufen. Möglicherweise hat sich ein wichtiger Lehrer Lammerts, Professor Heinrich Tessmer, für den jungen Künstler stark gemacht. Tessmer ist selbst mit Kunstwerken in Marzahn vertreten. Möglicherweise sollte die Kunst am Bau dem Trend der Zeit entsprechend anspruchsvoller, künstlerischer, internationaler werden. Jedenfalls ist die Kunst Lammerts, das ist meine feste Überzeugung, für eine Zielgruppe von bis zu Sechsjährigen zu anspruchsvoll. Kinder verstehen das nicht und werden verunsichert. Die Kinder in Marzahn Ost wurden keine Umstürzler.
Wir wollen noch zwei Arbeiten von Lammert zeigen.
Mark Lammert, Ohne Titel
Mark Lammert, Ausstellung2
Der Vortrag von Martin Schönfeld war komplex und anspruchsvoll. Er hatte auch mehr Zuhörer verdient. Wir hoffen, mit diesem Bericht nachhelfen zu können. Schönfeld konnte zeigen, was wir auch schon in früheren Beiträgen angedeutet haben: in den 1980er Jahren, insbesondere ab der Mitte dieses Jahrzehnts, gibt es einen gewaltigen Ruck in der bildenden Kunst der DDR. Der Kanon von Arbeit, Glück und Zukunft wird abgeklopft, so wie es Biebl mit seinen Freunden versucht hat. „Wir wollten Aufmerksamkeit! Grelle Bildschärfe gegen die ganze Langeweile. Attacke, Überschärfe, Großstadtgefühl.“ Und Freund Harald K. Schulze setzt die bemerkenswerten Sätze hinzu: „„Wir hatten keine Theorien, aber das Gefühl, gemeinsam stark zu sein. Wir waren so unbekümmert und es gab immer ältere, erfahrene Künstler, Lehrer, die uns schützten. Wir konnten auf den Putz hauen, ohne dass wir gleich in den Keller mussten.“ Bei ihm hieß der Schützende Walter Womacka. Für Gröszer und Biebl waren es die Akademiemeister Wieland Förster, Werner Stötzer, Ludwig Engelhardt. Keinem von Neon Real wäre es eingefallen, in den Westen zu gehen.
Diese Tendenz, das ist nicht unbedingt vielen klar, setzte sich punktuell auch in der Kunst im komplexen Wohnungsbau durch. Es gibt durchaus späte anspruchsvolle Kunstwerke, die immer noch auf Wiesen und in Parks stehen. Wer Zeit und Muße hat, sollte mit dem gelben Kunstführer „Kunst in der Großsiedlung“ unter dem Arm nun bei Sonnenschein selbst noch einmal hinausgehen und nachforschen.
(Axel Matthies)