Otto Nagel gehört zu Biesdorf

 

Dem großen Berliner Maler Otto Nagel widmete Wolfgang Brauer, Historiker und Vorsitzender des Heimatvereins Marzahn-Hellersdorf, im Stadtteilzentrum Biesdorf am 22. April einen Vortrag. Seit etlicher Zeit leistet der „Halbtags-Parlamentarier“ (Eigenbezeichnung) anregende Kulturarbeit im Bezirk, vor allem in seinem Wahlkreis Marzahn-NordWest und Marzahn-Ost.

Brauer nannte Otto Nagel in einem Atemzug mit Otto Dix und Hans Baluschek sowie als Künstler in der Folge von Adolph Menzel und Heinrich Zille. Er hatte damit Pflöcke eingeschlagen.  Dix und Baluschek, beide kamen aus der Dresdner bzw. Berliner Secession, hatte die Erfahrung des 1. Weltkrieges geprägt. Beide waren als Kriegsfreiwillige eingezogen, mussten aber im Kriegsverlauf die tragische Erfahrung machen, dass Krieg einsames Sterben einerseits und verlogene Heldenverehrung in der Heimat andererseits bedeutet. Mit unerbittlicher Härte zeigt Dix den Krieg, dessen Realismus auf der Bedingung beruhte: ich kann nur malen, was ich selbst gesehen habe. Baluscheks Kunst hingegen rechnet nach dem Krieg nicht ab, sie orientiert sich neu. Baluschek wird Sozialdemokrat, er setzt sich für städtische Bildung und soziale Projekte ein. Er zeichnet Berlin und die Ausgestoßenen der Stadt, dabei vermeidet er Öl – „Mir war die Ölfarbe für diesen Zweck zu satt und zu speckig; außerdem gestattet sie mir bei den verhältnismäßig kleinen Formaten nicht den scharfen Ausdruck der Gesichtslinien meiner Figuren und gewisse Einzelheiten, wie der gespitzte Stift, mit dem ich farbig zeichnen konnte.“

Otto Dix, Lens wird mit Bomben belegt. 1924

Otto Dix, Lens wird mit Bomben belegt. 1924

Otto Dix, Der Streichholzhändler II

Otto Dix, Der Streichholzhändler II.

 

Hans Baluschek, Regen

Hans Baluschek, Regen

Hans Baluschek, Sommerfest in der Laubenkolonie

Hans Baluschek, Sommerfest in der Laubenkolonie

 

Otto Nagel, drei Jahre später als Dix 1894 geboren, war als Arbeiterjunge aus dem Wedding von Anfang an Kriegsgegner und verweigerte sich dem Dienst. Trotzdem musste er kurzzeitig in den Krieg, war dann 1917/18 als Kriegsdienstverweigerer strafgefangen in der Nähe von Köln. Er nahm dort als Arbeiter- und Soldatenrat an der Novemberrevolution teil, bevor er nach Berlin und zu seiner Familie zurückkehrte.

Nagel war im wesentlichen Autodidakt. Er hatte eine Glasmalerei-Ausbildung begonnen. Künstlerisch orientierte er sich an Heinrich Zille, den er, wie Brauer formulierte, „demütig“ respektierte. Aber auch Zille schätzte die künstlerische Entwicklung des jungen Nagel. Während Nagel die soziale Realität so hart und genau wie möglich abbilden wollte, hatte es Zille geschafft, auch vom bürgerlichen Feuilleton respektiert zu werden. Seine Zeichnungen waren nicht geschönt, aber die schlagfertigen berlinischen Kommentare nahmen der Armut die Einsamkeit und den dunklen Schatten, in denen die Menschen lebten. Nagel schätzte den Reichtum an Details in den Zeichnungen von Zille, worin er ihm nacheiferte. Hier zwei Arbeiten aus den 1920er Jahren zum Vergleich:

1927 Parkbank vor dem Altersheim - Öl SPK-MG

Otto Nagel, Parkbank vor dem Altersheim. 1927

Zille, Hindenburg kommt um 1925

Heinrich Zille, Hindenburg kommt. 1925

 

Zille konservierte mit seinen Einkünften jedoch kein großbürgerliches Leben, sondern unterstützte wertvolle künstlerische Projekte und half bedürftigen Künstlerkollegen. Ein großes Projekt, das noch heute Respekt findet und in der deutschen Filmgeschichte einen festen Platz hat ist der Film „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ aus dem Jahre 1929. Zum Stab dieses Films gehörten Künstlerpersönlichkeiten, die im Who is who der proletarisch-revolutionären Kunst stehen: Angeregt hatte den Film Zille selbst, der den Filmdreh nicht mehr miterlebte. Am Drehbuch wirkten dann Otto Nagel, Willi Döll und Jan Fethke mit. Die selbst komponierte Musik dirigierte der damals 35 Jahre alte Paul Dessau original im Erstaufführungskino Alhambra am Kurfürstendamm ein, wo er als Orchesterleiter engagiert war. Auch Käthe Kollwitz unterstützte die Regiearbeit aktiv. Regisseur war Phil (Philipp) oder Piel Jutzi, er drehte später auch „Kuhle Wampe“. Ein Darsteller im Film (der Schlafbursche) war der später in der DDR sehr beliebte Gerhard Bienert. Der Film wurde vertrieben von der Prometheus Film, bei der der legendäre Willi Münzenberg die Fäden zog.

Einen Tag nach der Uraufführung am 29. Dezember 1929 hatte Otto Nagel einen Beitrag in der Zeitung „Die Welt“ veröffentlicht. Wir wollen einige Passagen davon publizieren.

Der neue Zille-Film der ‚Prometheus’ wird heute unter dem Protektorat von Käthe Kollwitz und Hans Baluschek in den Alhambra-Lichtspielen (am Kurfürstendamm, Ecke Wilmersdorfer Straße) uraufgeführt. Zum erstenmal hat hier eine Gruppe proletarischer Filmleute die Möglichkeit gehabt, einen Film zu drehen. Es ist selbstverständlich, daß [in] diesem Film, falls er dem verstorbenen Heinrich Zille gerecht werden sollte, sein Milljöh, seine Typen unverfälscht dargestellt werden mußten.

In den proletarischen Elendsbezirken, vor allem am Wedding, fand Zille seine Motive, hier leben die Menschen, die er in seinen Bildern dargestellt hat. Was lag also näher, als dorthin zu gehen und in den Wohnungen, Kneipen, auf den Höfen, Rummelplätzen, Straßen, Lumpenstampen die Aufnahmen zu machen und die originalen Zille-Menschen mitspielen zu lassen.

Manche Aufnahme, die jetzt im fertigen Film nur sekundenlang als Bild erscheint, hat tagelange, mühevolle Arbeit gekostet. Besondere Geduld und Ausdauer erforderten die Aufnahmen der mitwirkenden Typen. Alle diese Menschen, die ihr Leben lang noch niemals vor der Kamera gestanden hatten, waren wie umgewandelt, wenn sie sich vor dem Apparat bewegten. Sofort verloren sie ihre Natürlichkeit, auf die wir es ja abgesehen hatten. Sie fingen an zu spielen, mit den Händen zu reden – und es dauerte manchmal Stunden, bis sie wieder sie selbst waren.

Bei einer Aufnahme musste viel getrunken werden. Jedes Mal, wenn wir drehen wollten, war das Bierglas, das voll sein musste, von dem »Darsteller« leergetrunken. Als wir noch lange nicht fertig waren, lag unser Mann schon unter dem Tisch. Wir mussten erst ein paar Stunden warten, bis er wieder nüchtern und »aufnahmefähig« war. 

Viel leichter waren die Aufnahmen, die wir mit (oftmals tausenden) Arbeitern machten. Eine Demonstration wurde gedreht. Rote Farbe kommt im Film schwarz. Um den Ton des Rot richtig zu erhalten, wäre es gut gewesen, grüne Fahnen zu nehmen. Unsere Demonstranten – echte Weddinger Proleten – lehnten ab, unter grünen Fahnen zu marschieren. Wir mussten uns schon bequemen, eine andere Lösung zu finden.“

Mutter Krausens

Filmplakat von Käthe Kollwitz

 

Es gibt eine Episode in Nagels Leben, die kaum Beachtung findet. Am 30. Januar 1933 wird er  zum Vorsitzenden des Reichsverbandes Bildender Künstler in Deutschland gewählt. Einen Tag später wird die Wahl von den Nazis annulliert. Nun wird Otto Nagel schnell ausgegrenzt. Er erhält Atelierverbot und musste hinaus auf die Straße – dort zeichnen und malen. 1937 wurde ein Teil seiner Arbeiten als „entartet“ konfisziert und partiell verkauft. Zudem kam der Maler kurzzeitig ins KZ Sachsenhausen. Die Zeit bis 1945 war für Nagel extrem von Existenz- und Verfolgungsangst geprägt. Dennoch hat er in dieser Zeit 400 Arbeiten, vor allem Pastelle und Gemälde vom Wedding und dem alten Berlin geschaffen, die ihn als Berliner Maler charakterisieren. Das ist die größte Werksdichte in seiner Künstlerbiografie.

Otto Nagel, Friedrichsgracht. 1942

Otto Nagel, Friedrichsgracht. 1942

 

Nach der Befreiung vom Faschismus stellt sich Otto Nagel der neuen Ordnung selbstverständlich zur Verfügung. Er bekleidet eine Reihe von Funktionen in künstlerischen Verbänden. So ist er Mitbegründer des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und 1950 Gründungsmitglied des Verbandes bildender Künstler Deutschlands und der Deutschen Akademie der Künste. Er ist Vizepräsident der Akademie der Künste und Volkskammerabgeordneter. Er gerät selbst immer wieder in ideologisch überformte Kunstdebatten, insbesondere die Formalismus-Debatte. Otto Nagel bereiteten diese politsch motivierten Debatten künstlerisch den Garaus. Insbesondere der Kulturpolitiker Alexander Abusch trieb ihn an den Rand des Malverbotes. Das hatte er zuletzt nach 1933 erleben müssen. Wolfgang Brauer hebt dagegen hervor, dass Nagels Verdienste in dieser Zeit vor allem durch ein umfangreiches Meisterschüler-Programm begründet seien – eine Erfahrung, die Nagel selber vermissen musste und die er nun bewusst schuf. Nagel war in dieser Zeit leer und ausgebrannt. Ein Selbstporträt zeigt das genau.

Otto Nagel, Der alte Maler. 1963

Otto Nagel, Der alte Maler. 1963

 

1952 zog Otto Nagel mit seiner Familie nach Biesdorf, wo er 1967 verstarb. Seine letzte Ruhestätte befindet sich auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde.

Otto Nagel war ein großer Mal-Chronist des alten Berlin. Er liebte den Fischerkiez, den er in den letzten Lebensjahren noch pastellierte und malte. Für den Neubau in industrieller Bauweise mochte er sich nicht erwärmen. So stehen auf dem Bild „Am Köllnischen Fischmarkt“ von 1965 die alten und die nicht die neuen Häuser im Mittelpunkt:

Otto-Nagel, Am Köllnischen Fischmarkt 1965

Otto Nagel, Am Köllnischen Fischmarkt. 1965

 

Sicherlich ist Otto Nagel, da waren sich Wolfgang Brauer und die Gäste einig, der bedeutendste bildende Künstler, der je auf dem Territorium unseres jetzigen Bezirkes Marzahn-Hellersdorf gelebt hat. Vor exakt drei Jahren, im Frühsommer 2012, fand im Stadtteilzentrum Schloss Biesdorf eine Ausstellung mit Werken Nagels statt, die das Archiv der Akademie der Künste Berlin mit großzügiger Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung kuratiert hatte. Die Ausstellung fand große Beachtung. Im Ausstellungskatalog „Orte – Menschen“ hatten Kulturstadträtin Juliane Witt und der Archivleiter der Akademie der Künste Wolfgang Trautwein im Vorwort gemeinsam formuliert:

„Die jetzt präsentierte Otto-Nagel-Ausstellung unterstreicht auch das Angebot der Akademie der Künste, die Bilder dem künftigen Kunstort im Ensemble Schloss Biesdorf zur Verfügung zu stellen. Uns allen wird es eine große Freude sein, einigen Werken nach der Neueröffnung … wieder zu begegnen. Otto Nagels Werke bleiben in Biesdorf. Sie halten mit diesem Katalog auch ein Stück Vorfreude in den Händen!“

Otto-Nagel-Orte-Menschen_0

Katalog der Ausstellung im Schloss Biesdorf 2012

Otto Nagel, Selbstbildnis

Otto Nagel, Selbstbildnis

 

(Axel Matthies)

 

 

vom: 11.05.2015